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Reue und Wiedergeburt

Von Max Scheler

Der Aufsatz Reue und Wiedergeburt des Philosophen Max Scheler (1874-1929) erschien 1917 zuerst in der von Franz Blei bei Jakob Hegner herausgegebenen Vierteljahresschrift Summa (I/1) unter dem Titel Zur Apologetik der Reue und wurde 1921 im Sammelband Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen. Erster Band: Religiöse Erneuerung wiederveröffentlicht. Wir entnehmen den Text der zweiten Auflage, die 1923 in Leipzig erschien. Max Scheler war Phänomenologe (vgl. Edmund Husserl, Begründer der Phänomenologie) und war mit Dietrich von Hildebrand befreundet. Er begründete mit seinem Werk Der Formalismus in der Ehtik und die materiale Wertethik die Wertethik, die von Hildebrand weiterentwickelt und teilweise korrigiert wurde.
Kursivgesetztes ist im Original in S p e r r s c h r i f t.

In den Regungen des Gewissens, in seinen Warnungen, Beratungen und Verurteilungen nimmt das geistige Auge des Glaubens von jeher die Umrißlinien eines unsichtbaren, unendlichen Richters wahr. Diese Regungen scheinen wie eine wortfreie, natürliche Sprache, die Gott mit der Seele redet, und deren Weisungen das Heil dieser individuellen Seele und der Welt betreffen. Es ist eine Frage, die hier nicht entschieden sei: ob es überhaupt möglich ist, die besondere Einheit und den Sinn der sogenannten »Gewissens«regungen von dieser Deutung als einer geheimen »Stimme« und Zeichensprache Gottes so abzulösen, daß die Einheit dessen, was wir »Gewissen« nennen, überhaupt noch fortbestände. Ich bezweifle es und glaube vielmehr, daß ohne die Mitgewahrung eines heiligen Richters in ihnen diese Regungen selbst in eine Mannigfaltigkeit von Vorgängen (Gefühlen, Bildern, Urteilen) zerfielen und daß für ihre Einheitsfassung überhaupt kein Grund mehr vorläge. Auch scheint es mir keines eigentlichen deutenden Aktes zu bedürfen, um der seelischen Materie dieser Regungen die Funktion erst zu verleihen, dadurch sie einen solchen Richter präsentieren. Sie selbst üben von sich her diese Gott präsentierende Funktion aus, und es bedarf umgekehrt eines Augenschließens und Wegsehens, um diese Funktion nicht in ihnen selbst mitzuerleben. Wie sich Farben- und Ton- erscheinungen, anders als Schmerz und Wollust, nicht als bloße Empfindungszustände unsers Leibes geben (die einfach das sind, was sie sind), sondern von Hause aus sich geben als gegenständliche Phänomene, die ohne ihre Funktion, uns mit ihrem eignen Gehalt zugleich Kundschaft von den Gegenständen einer wirklichen Welt zu bringen, gar nicht »empfunden« sein können — so wohnt auch diesen Regungen von Hause aus die Sinnbezüglichkeit auf eine unsichtbare Ordnung inne und auf ein geistig-persönliches Subjekt, das dieser Ordnung vorsteht. Und so wenig uns von der ausgedehnten Roterscheinung der roten Kugel auf deren Existenz ein »Kausalschluß« führt, so wenig auch von diesen Regungen ein »Kausalschluß« auf Gott. Aber in beiden Fällen präsentiert sich etwas im Erleben, was dem präsentierenden Material transzendent ist, aber gleichwohl in ihm miterfaßt wird. —

Von diesen Regungen des Gewissens ist die Reue diejenige, die sich wesentlich richtend verhält und auf die Vergangenheit unsers Lebens sich bezieht.

Ihr Wesen, ihr Sinn, ihr Zusammenhang mit unserm ganzen Leben und seinem Ziele, ist von der désordre du cœur der Gegenwart so abgründig, so tief und so häufig verkannt worden, daß es nötig ist, durch eine Kritik der, meist überaus billigen und oberflächlichen, modernen Theorien über ihren Ursprung, Sinn und Wert freien und festen Boden für ihre positive Wesensbestimmung zu gewinnen. —

Fast ausschließlich pflegt die moderne Philosophie in der Reue einen nur negativen und gleichsam höchst unökonomischen, ja überflüssigen Akt zu sehn — eine Disharmonie der Seele, die man auf Täuschungen verschiedenster Art, auf Gedankenlosigkeit oder auf Krankheit zurückführt.

Wenn der medizinische Laie an einem Körper Ausschläge, Eiterbildungen, Beulenbildungen oder die mit Wundheilungen verknüpften wenig anziehenden Umformungen von Haut und Gewebe wahrnimmt, so vermag er zumeist nichts mehr als Symptome von Erkrankungen darin zu sehn. Erst der pathologische Anatom kann ihm im einzelnen zeigen, daß diese Erscheinungen gleichzeitig höchst kunstvolle und verwickelte Wege sind, in denen sich der Organismus von gewissen Giften befreit, um sich auf diese Weise selbst zu heilen; ja daß durch sie häufig Schädigungen schon vorher gesteuert werde, die der Organismus ohne ihr Auftreten erlitte. Schon das einfache Zittern ist nicht nur ein Symptom des Frierens, sondern auch ein Mittel, uns warm zu machen. Unsre Natur enthält eigenartige Stufen ihres Seins, die nicht, wie flache Monismen wollen, auf eine einzige zurückzuführen sind: Geist, Seele, Leib, Körper. Aber gleichwohl finden sich auf den drei ersten Stufen Gesetzmäßigkeiten, die eine tiefe Analogie untereinander aufweisen. Auch die Reue hat neben, ja infolge ihrer negativen, verwerfenden Funktion eine positive, befreiende, aufbauende. Nur dem oberflächlichen Blicke erscheint Reue als bloßes Symptom irgendwelcher innern Disharmonie unsrer Seele oder gar als unnützer Ballast, der uns mehr lähmt als fördert. Man sagt: Fixiert uns nicht die Reue an eine Vergangenheit, die doch fertig ist und unabänderlich, und deren Inhalt — wie die Deterministen hervorheben — doch eben so sich abspielte, wie sie sich bei voller Gegebenheit aller Ursachen unsers bereuten Verhaltens abspielen mußte. »Nicht bereuen, sondern besser machen« , ruft uns daher ein joviales Bürgerwort mit dem Lächeln gutmütiger, wohlwollender Entrüstung zu. Nicht nur ein »unnützer Ballast« soll nach diesem Urteil die Reue sein; ihr Erleben beruhe auch noch auf einer Art eigentümlicher Selbsttäuschung. Diese bestehe nicht nur darin, daß wir, gleichsam uns stemmend gegen vergangenes Wirkliches, den absurden Versuch machen, dieses Wirkliche aus der Welt herauszuwerfen und die Richtung des Zeitflusses umzukehren, in der unser Leben fortfließt; sie bestehe auch darin, daß wir das Ich, das die Tat bereut, heimlich mit dem Ich gleichsetzen, das die Tat vollbrachte, während doch das Ich durch die seelischen Vorgänge seit der Tat, ja durch die Tat selbst und ihre Nachwirkungen, ein bei aller Selbigkeit des Ich inhaltlich andres geworden sei. Weil wir jetzt die Tat unterlassen zu können meinen, bilden wir uns — sagt man — die Möglichkeit ein, sie auch damals unterlassen haben zu können, als wir sie taten.

Ja noch mehr, meinen andre, wir verwechseln im Reueakt das Erinnerungsbild der Tat mit der Tat selbst. Der Schmerz, das Leiden, die Trauer, welche die Reue einschließt, sie haften ja an diesem Bilde; sie haften nicht an der Tat, die so still und stumm, — und nur beredt für den Verstand in ihren Wirkungen, von denen auch dieses Bild noch eine Wirkung ist — hinter uns liegt. Aber indem wir nun dieses gegenwärtige Bild der Erinnerung an die Zeitstelle und an die Stelle der Tat überhaupt zurückverlegen, scheint uns die Tat selbst mit jenem Charakter umkleidet, der nur eine Gefühlsreaktion auf dieses ihr gegenwärtiges Bildwirken ist. — In solch »psychologistischer« Weise hat zum Beispiel auch Nietzsche die Reue als eine Art innerer Täuschung zu erklären gesucht. Der bereuende Verbrecher, meint er, könne das »Bild seiner Tat« nicht ertragen, und er »verleumde« seine Tat selbst durch dieses »Bild«. Die Reue läßt Nietzsche, wie das »schlechte Gewissen« überhaupt, dadurch entstanden sein, daß durch Staat, Zivilisation, Recht einst eingedämmte, früher gegen Mitmenschen frei ausgewirkte, Begierden des Hasses, der Rache, der Grausamkeit und des Wehtuns aller Art sich nun gegen den Lebensstoff ihres Trägers selbst zurückwenden und an ihm sich befriedigen. »In friedlichen Zeiten fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.« Etwas weniger »wild« als diese Hypothese ist die Vorstellung, die Reue sei etwas wie Rache an sich selber, respektive Selbstvergeltung, eine bloße Fortbildung einer Art von Selbstbestrafung, die in ihrer primitivsten Form nicht notwendig nur als »böse« Gewertetes treffen muß, die auch in Ausdrücken wie »Ich könnte mir die Haare ausraufen, daß ich dies getan habe« , »ich könnte mich ohrfeigen« stattfindet, wenn der Erfolg zeigt, daß man gegen seinen Vorteil gehandelt oder sonst etwas »falsch« gemacht hat. Wird der Rachetrieb eines Geschädigten B gegen den Schädiger A durch Sympathie eines Dritten C mit dem Geschädigten (später durch Übernahme dieser Rolle des Dritten C durch Staat und Obrigkeit) also durch einen gleichsam entindividualisierten Vergeltungstrieb abgelöst, so ließe sich denken, daß solcher bei allem »Unrecht« einsetzende Vergeltungsimpuls sich dieses eben gekennzeichneten Selbstbestrafungstriebes bemächtigte, daß also auch dann Vergeltung gefordert wird, wenn man selber der Verüber der Untat oder des Unrechts ist, welche Vergeltung fordern. Man bemerkt, daß man in dieser Theorie den Willen zu Genugtuung und Buße als früher ansieht wie die eigentliche Reue, und in ihm nicht so sehr eine Folge der Reue erblickt als vielmehr ihre Ursache. Reue wäre hiernach ein verinnerlichter Bußwille. — Endlich erwähne ich noch drei vielbeliebte »moderne Ideen« über die Reue: die Furchttheorie, die »Kater«-Theorie und jene Auffassung der Reue als einer seelischen Krankheit, die von pathologischer Selbstanklage, Selbstverletzung und von Erscheinungen wie »wollüstigem Herumwühlen in den eignen Sünden«, kurz von irgendeiner Art von geistiger Leidenssucht nur dem Grade, nicht aber dem Wesen nach, verschieden sei.

Die Furchttheorie ist wohl die in der Theologie, Philosophie und Psychologie der Neuzeit verbreitetste Vorstellung. Hiernach ist die Reue »Nichts als« (solche »Nichts-als«-Form haben ja die meisten »modernen« Theorien) »eine Art Wunsch, man möchte etwas nicht getan haben«, welcher Wunsch in einer gleichsam objektlos gewordenen Furcht vor irgendeiner möglichen Bestrafung fundiert ist. Also ohne ein vorhergehendes Strafsystem auch keine Reue! Nur das Fehlen einer bestimmten Vorstellung von dem Strafübel, dem Strafenden, der Strafprozedur, der Strafart, von dem Orte und der Zeit des Strafaktes macht hiernach den Unterschied des in der Reue liegenden Angstgefühls von der gewöhnlichen Furcht vor Strafe aus. Die Reue wäre hiernach genetisch ein Nachklang früherer Bestrafungserfahrungen, aber so, daß die Mittelglieder der Assoziationskette zwischen Handlungsbild und erfahrenem Strafübel ausgefallen sind; vielleicht ist sie, wie der Darwinist noch gern hinzusetzt, eine dem Individuum schon angeerbte, feste Assoziationsbahn zwischen den beiden Dingen. Reue wäre hiernach die, zu einer Art Konstitution gewordene Feigheit, die Folgen seiner Handlungert auf sich zu nehmen, und zugleich eine gattungsnützliche Schwäche der Erinnerung.

Sie wäre nicht ein Hinweis auf einen göttlichen Richter. Sie wäre vielmehr die verinnerlichte Polizei von gestern.

Der andern Auffassung der Reue, der »Katertheorie«, begegnet man in der Philosophie etwas seltner, um so häufiger im praktischen Leben. Die Reue, meint man, sei in primitivster Form ein Depressionszustand, der durch das Nachlassen der die Handlung begleitenden Spannkräfte und durch die eventuellen schädlichen und unlustvollen Nachwirkungen der Handlung einzutreten pflegt. Reue sei von Hause aus also eine Art »moralischer Kater«, der freilich nachträglich durch das Urteil eine »höhere« Ausdeutung finde. Insbesonders Exzesse in der Befriedigung sinnlicher Triebe (im Essen, Trinken, Geschlechtsverkehr, Wohlleben usw.) und ihre depressiven Nachwirkungen bildeten hiernach die Grundlage für eine traurige Gemütslage, in der wir nachträglich diese Exzesse verwerfen: »Omne animal post coitum triste« und »junge Huren, alte Betschwestern« . Die, zweifellos richtige, Beobachtung, daß auch außerhalb dieser Sphäre des Gesundheitsschädlichen andere Mißerfolge zur Reue disponieren, bildet eine weitere scheinbare Stütze für diese Auffassung.

Für alle diese angeführten Ansichten ist natürlich die Reue ein ebenso sinnloses wie zweckloses Verhalten. Besonders das Prädikat »zwecklos« ist das beliebteste, mit dem sie von der Menge heutiger Menschen abgetan wird. Feiner Gebildete setzen noch hinzu, daß Reue nicht nur zwecklos sei, sondern »schädlich«, da sie nur tat- und lebenshemmend wirken könne und ähnlich wie die pure Vergeltungsstrafe eine Unlust einschließe, die sich keineswegs durch ihre Leistungskraft, die Lustsumme des ganzen Lebens zu vergrößern, legitimieren könne. Denn wenn Reue auch zuweilen zu guten Vorsätzen und zur Besserung anrege, so sei sie doch hierzu nicht notwendig und könne im Laufe dieses Prozesses sehr wohl übersprungen werden. Und was solle gar eine Reue am Ende des Lebens, kurz vor dem Tode, wo sie doch mit besondrer Kraft einzusetzen pflege, wenn ihr doch nichts als zuweilen diese bessernde Bedeutung zukomme? Viel eher als bessernd aber wirke sie auch schon während des Lebens lebenshemmend, indem sie uns an eine unabänderliche Vergangenheit festkette.

Alle diese Erklärungen und Anklagen der Reue, von Spinoza über Kant bis auf Nietzsche beruhn auf schweren Irrtümern. Die Reue ist weder ein seelischer Ballast noch eine Selbsttäuschung, sie ist weder ein bloßes Symptom seelischer Disharmonie noch ein absurder Stoß, den unsre Seele gegen das Vergangene und Unabänderliche ausführt.

Im Gegenteil ist die Reue, schon rein moralisch gesehn, eine Form der Selbstheilung der Seele, ja der einzige Weg zur Wiedergewinnung ihrer verlorenen Kräfte. Und religiös ist sie noch weit mehr: der natürliche Akt, den Gott der Seele verlieh, um zu Ihm zurückzukehren, wenn sich die Seele von Ihm entfernte.

Eine der Hauptursachen des Verkennens des Wesens der Reue (und eine, die allen den genannten »Erklärungen« zugrundeliegt) ist eine falsche Vorstellung über den innern Strukturzusammenhang unsers geistigen Lebens. Man kann die Reue gar nicht voll verstehn, ohne sie in eine tiefere Gesamtanschauung der Eigentümlichkeit unsers Lebensabflusses im Verhältnis zu unsrer feststehenden Person hineinzustellen. Das tritt sogleich hervor, wenn man den Sinn des Arguments untersucht, daß Reue der sinnlose Versuch sei, ein Vergangenes ungeschehen zu machen. Wäre unser persönliches Dasein eine Art Strom, der in derselben objektiven Zeit, in der sich die Naturereignisse abspielen, gleich diesem Strome, wenn auch mit anderm Inhalt, dahinrauscht, so möchte dieser Rede Berechtigung zukommen. Kein Teil dieses Stromes der »nachher« ist, könnte dann auf einen Teil, der »vorher« ist, sich zurückbeugen oder an ihm irgendeine Änderung bewirken. Aber im Gegensatz zu diesem Abfluß der Veränderungen und Bewegungen der toten Natur — deren »Zeit« ein einförmiges Kontinuum einer Dimension von einer bestimmten Richtung ist ohne die Dreiteilung von Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft — sind uns im Erlebnis eines jeden unsrer unteilbaren, zeitlichen Lebensmomente Struktur und Idee des Ganzen unsers Lebens und unsrer Person mitgegenwärtig. Jeder einzelne dieser Lebensmomente, der einem unteilbaren Punkt der objektiven Zeit entspricht, hat in sich seine drei Erstreckungen der erlebten Gegenwart, der erlebten Vergangenheit und Zukunft, deren Gegebenheit sich in Wahrnehmung, unmittelbarer Erinnerung und unmittelbarer Erwartung konstituiert. Vermöge dieser wunderbaren Tatsache ist zwar nicht die Wirklichkeit, wohl aber der Sinn und der Wert des Ganzen unsers Lebens in einem jeden Zeitpunkt unsers Lebens noch in unsrer freien Machtsphäre. Nicht nur über unsre Zukunft verfügen wir; es gibt auch keinen Teil unsers vergangenen Lebens, der — ohne daß freilich die in ihm beschlossene Komponente von bloßer Naturwirklichkeit ebenso frei zu verändern stünde wie jene der Zukunft — nicht in seinem Sinn- und Wertgehalt noch wahrhaft abänderlich wäre, indem er als Teilsinn zu einer (immer möglichen) neuartigen Einreihung in den Gesamtsinn unsers Lebens gebracht wird. Denken wir uns unsre Erlebnisse bis zu einem bestimmten Zeitpunkt als die Teile einer Linie V — Z, welche ein Stück der objektiven Zeit darstelle. Dann steht es nicht so, wie in der toten Natur,

                        

daß b durch a, c durch b, d durch c usw. jeweilig eindeutig determiniert wären. Es ist g, das letzte Erlebnis, vielmehr prinzipiell durch die ganze Reihe R determiniert, und es vermag im besonderen jedes der Erlebnisse a b c d e auf g und auf jedes der noch folgenden Erlebnisse wieder »wirksam« zu werden. Das zurückliegende Erlebnis vermag solches, ohne daß es selbst, oder ein sogenanntes »Bild« von ihm zuerst als Teilgebilde in den vor f unmittelbar vorhergehenden Zustand g eingehen müßte. Da nun aber die Vollwirksamkeit eines Erlebnisses im Lebenszusammenhang zu seinem vollen Sinn und seinem endgültigen Wert mitgehört, so ist auch jedes Erlebnis unsrer Vergangenheit noch wertunfertig und sinnunbestimmt, so lange es nicht alle seine ihm möglichen Wirksamkeiten geleistet hat. Erst im Ganzen des Lebenszusammenhanges gesehn, erst wenn wir gestorben sind (bei Annahme eines Fortlebens aber niemals) wird so ein Erlebnis zu jener sinnfertigen, »unveränderlichen« Tatsache, wie es die in der Zeit zurückliegenden Naturereignisse von Hause aus sind. Vor unserm Lebensende ist alle Vergangenheit, wenigstens ihrem Sinngehalte nach, immer nur das Problem: was wir mit ihr anfangen sollen. Denn schon, indem ein Teil des objektiven Zeitinhalts zu unsrer Vergangenheit wird, d. h. indem er in diese Erstreckungskategorie des Erlebens eingeht, wird er jener Fatalität und Fertigkeit beraubt, welche abgeflossene Naturvorgänge besitzen. Als Vergangenheit wird dieser Zeitinhalt »unser«, wird er untergeordnet der Macht der Person. Maß und Art der Wirksamkeit jedes Teiles unsrer »Vergangenheit« auf den Sinn unsers Lebens stehn also zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens noch in unsrer Macht. Dieser Satz gilt für jede »Tatsache« vom Wesen des »historischen Tatbestandes«, sei es des Einzellebens, sei es des Lebens der Gattung oder der Weltgeschichte. Der »historische Tatbestand« ist unfertig und gleichsam erlösbar. Gewiß ist alles, was am Tode Caesars den Ereignissen der Natur angehört, so sehr fertig und invariabel wie die Sonnenfinsternis, die Thaies vorhersagte. Aber das, was davon »historischer Tatbestand« ist, also das, was Sinn und Wirkungseinheit im Sinngeflechte der menschlichen Geschichte an ihm ist, das ist ein unfertiges und erst am Ende der Weltgeschichte fertiges Sein.

Unsre Natur hat nun aber wunderbare Kräfte in sich, um sich der fernem Wirksamkeit eines oder des andern Gliedes der Erlebnisreihe unsrer Vergangenheit zu entbinden. Schon diese Funktion unsers Geistes, die man gemeinhin fälschlich für einen Faktor hält, der Vergangenheit erst zur Wirksamkeit in unserm Leben bringe, die klare, gegenständliche Erinnerung des betreffenden Ereignisses ist eine dieser Kräfte. Denn eben das, was auf Grund des oben auseinandergesetzten Prinzips psychischer Wirksamkeit geheimnisvoll in uns fortlebt und fortwirkt, eben das wird durch die Distanziierung, durch die Vergegenständlichung, durch die feste Lokalisierung und Datierung, die der kühle Erkenntnisstrahl vornimmt, in dem Lebensnerv getroffen, der die Kraftquelle des Erinnerungsaktes ist für seine Wirksamkeit. Vermöchte der fallende Stein an einer bestimmten Phase seines Falls sich der vorhergehenden Phase zu erinnern — die ihn jetzt nur determiniert, die folgende Phase nach einem bestehenden Gesetze zu durchfallen — das Fallgesetz wäre sofort aufgehoben. Denn Erinnerung ist schon der Anfang der Freiheit von der dunkeln Gewalt des erinnerten Seins und Geschehens. Erinnertwerden — das ist eben die Art, wie Erlebnisse von unserm Lebenskern Abschied zu nehmen pflegen; es ist die Art, wie sie sich aus dem Zentrum des Ich, dessen Gesamthaltung zur Welt sie vorher mitbedingten, entfernen, und in der sie ihre bloße Stoßwirksamkeit einbüßen; es ist die Art, wie sie für uns ersterben. So wenig ist Erinnerung also ein Glied im sogenannten »Flusse einer psychischen Kausalität«, daß sie vielmehr diesen Fluß unterbricht und Teile seiner zum Stehn bringt. So wenig vermittelt sie die Wirksamkeit unseres früheren Lebens auf unsre Gegenwart, daß sie vielmehr aus der Fatalität dieser Wirksamkeit uns erlöst. Die gewußte Geschichte macht uns frei von der Macht der gelebten Geschichte. Auch die Geschichtswissenschaft ist gegenüber der durch die Kräfte der sogenannten Tradition zusammengehaltenen Folgeeinheit menschlich-geistiger Gruppenvorgänge an erster Stelle die Befreierin von der historischen Determination.

In diesen allgemeinen Gedankenzusammenhang ist auch das Phänomen der Reue einzuordnen. Bereuen heißt zunächst im Hinbeugen auf ein Stück Vergangenheit unseres Lebens einen neuen Glied-Sinn und einen neuen Glied-Wert diesem Stück aufprägen. Man sagt uns, Reue sei ein sinnloser Stoß, den wir gegen ein »Unabänderliches« führen. Aber nichts in unserm Leben ist in dem Sinne »unabänderlich« , wie es dieses Argument meint. Alles ist erlösbar, soweit es Sinn- und Wert- und Wirkungseinheit ist. Eben dieser »sinnlose« Stoß ändert das »Unabänderliche« und stellt den bereuten Unwertverhalt »daß ich dies tat«, »daß ich so war« auf neue Weise und mit neuer Wirkungsrichtung in die Totalität meines Lebens hinein. Man sagt uns, Reue sei absurd, da wir keine Freiheit besäßen und alles so kommen mußte, wie es kam. Gewiß hätte der keine Freiheit, der nicht bereuen könnte. Aber bereuet doch — so werdet ihr sehn, wie ihr im Vollzug eben dieses Aktes das werdet, was ihr zur »Bedingung« des Sinnes dieses Aktes zuerst törichterweise errechnen wollt : nämlich »frei« ! Ihr werdet »frei« von der fortstoßenden und dahinreißenden Stromkraft der Schuld und des Bösen in dem vergangnen Leben, »frei« von dem vor der Reue bestehenden eisernen Zusammenhang der Wirksamkeit, der immer neue Schuld aus der alten Schuld hervortreibt und so den Schulddruck lawinenartig wachsen läßt. Nicht die bereute Schuld, sondern nur die unbereute hat auf die Zukunft des Lebens jene determinierende und bindende Gewalt. Die Reue tötet den Lebensnerv der Schuld, dadurch sie fortwirkt. Sie stößt Motiv und Tat, die Tat mit ihrer Wurzel, aus dem Lebenszentrum der Person heraus, und sie macht damit den freien, spontanen Beginn, den jungfräulichen Anfang einer neuen Lebensreihe möglich, die nun aus dem Zentrum der eben vermöge des Reueaktus nicht länger mehr gebundenen Persönlichkeit hervorzubrechen vermag. Also wirket Reue sittliche Verjüngung. Junge, noch schuldfreie Kräfte schlafen in jeder Seele. Aber sie sind gehemmt, ja wie erstickt durch das Gestrüppe des Schulddruckes, der sich während des Lebens in ihr angesammelt und verdichtet hat. Reißet aber das Gestrüpp aus, und jene Kräfte werden von selbst emporsteigen. Je mehr ihr im Lebensstrom »fortschrittlich« dahinfliegt — Prometheus nur und niemals Epimetheus — desto abhängiger und gebundener seid ihr von diesem Schulddruck einer Vergangenheit. Ihr flieht nur eure Schuld, indem ihr die Krone des Lebens zu erstürmen meint. Euer Sturm ist eine geheime Flucht. Je mehr ihr die Augen schließt vor dem, was ihr zu bereuen hättet, desto unlösbarer sind die Ketten, die eure Füße im Fortgehn belasten. Aber auch der gemeine Indeterminist irrt, wo er von der Reue redet. Jene neue Freiheit, die gerade erst im Akte der Reue verwirklicht wird, will er ihr fälschlich als Bedingung setzen. Die jovialen Herren gar sagen: Nicht bereuen, sondern gute Vorsätze fassen und Zukünftiges besser machen! Aber dieses sagen die jovialen Herren nicht, woher die Kraft zum Setzen der guten Vorsätze und noch mehr die Kraft zu ihrer Ausführung kommen soll, wenn nicht die Befreiung und die neue Sichselbstbemächtigung der Person durch die Reue gegenüber der Determinationskraft ihrer Vergangenheit vorher erfolgt ist. Gute Vorsätze ohne ein mit dem Akt des Vorsatzes unmittelbar verbundenes Kraftbewußtsein und Könnensbewußtsein ihrer Ausführung sind eben jene Vorsätze, mit denen »der Weg zur Hölle« am einladendsten gepflastert ist. Dieses tiefsinnige Sprichwort bewahrheitet sich durch das Gesetz, daß jeder gute Vorsatz, dem die Kraft zu seiner Ausführung nicht innewohnt, nicht etwa bloß den alten Seelenzustand der innern Qual forterhält, also überflüssig ist, sondern der Person in diesem Zustand einen neuen positiven Unwert hinzufügt und den Zustand selbst vertieft und befestigt. Der Weg zu äußerster Selbstverachtung geht fast immer durch unausgeführte gute Vorsätze, denen keine rechte Reue vorherging. Nach dem nichtausgeführten guten Vorsatz ist die Seele nicht auf ihrem alten Niveau. Sondern sie findet sich weit tiefer hinabgestürzt als vorher. Das also ist hier der paradoxe Tatbestand : Wäre es selbst wahr, daß der einzige Wert der Reue in ihrer möglichen verbessernden Wirkung auf zukünftiges Wollen und Handeln liegt, so müßte der immanente Sinn des Aktes der Reue dennoch einzig- und allein nur das vergangene Schlechte und dies ohne jede hinschielende Intention auf die Zukunft und das Bessermachen treffen müssen. Aber auch diese Voraussetzung ist irrig.

Ähnlich steht es mit dem Einwand, es treffe der Akt der Reue ja gar nicht Tat und Verhalten während der Tat, sondern nur das »Bild« der Erinnerung, das selbst nicht unbeeinflußt durch die Tat und ihre ferneren Wirkungen entstanden sei. Solcher Rede liegt zunächst eine völlig falsche Auflassung der Erinnerung zugrunde. Erinnerung besteht nicht darin, daß in unserm Gegenwartsbewußtsein sich ein »Bild« vorfindet, welches erst sekundär durch Urteile auf ein Vergangenes bezogen würde. Im ursprünglichen Erinnern liegt vielmehr ein Haben des in der phänomenalen Vergangenheit erscheinenden Tatbestandes selbst, ein Leben und Verweilen in ihm, nicht ein Haben eines gegenwärtigen »Bildes«, das erst durch ein Urteil in die Vergangenheit zurückgeworfen oder dort »angenommen« werden müßte. Soweit sich aber sogenannte Gedächtnisbilder während des Erinnerns finden, sind ihre bildhaften Elemente durch die Erinnerungsintention, durch ihr Ziel und ihre Richtung bereits mitbedingt. Die Bilder folgen dieser Intention und wechseln mit ihrem Wechsel, nicht aber folgt die Intention zufällig oder mechanisch nach Assoziationsregeln folgenden Bildern. Das konkrete Zentrum unsrer sich in den Zeitablauf hinein erstreckenden geistigen Akte, das wir die Persönlichkeit nennen, vermag von Hause aus — de jure — jeden Teil unseres abgelaufenen Lebens anzuschaun, seinen Sinn und Wertgehalt zu erfassen. Nur die Faktoren, welche die Auswahl aus diesem, dem Erinnerungsakte prinzipiell zugänglichen Lebensbereich leiten und bestimmen, sind von gegenwärtigen Leibzuständen, ferner den von ihnen abhängigen reproduzierenden Ursachen und den assoziativen Gesetzen dieser Reproduktion, abhängig. Und darum ist auch die Reue als Akt ein wahres Eindringen in die Vergangenheitssphäre unsers Lebens und ein wahrer operativer Eingriff in sie. Sie löscht den moralischen Unwert, den Wertcharakter »Böse« des betreffenden Verhaltens wahrhaft aus, sie hebt den von diesen Bösen ihm nach allen Richtungen ausstrahlenden Schulddruck wahrhaft auf und sie nimmt ihm damit jene Kraft der Fortzeugung, durch die Böses immer neues Böses gebären muß. Das Licht der Reuebereitschaft leuchtet — nach dem Gesetze, nach dem die Wertbestimmtheiten unsers Lebens vor allen übrigen bedeutungsmäßigen Wasbestimmtheiten der Erinnerung gegeben zu sein pflegen, in unsre Vergangenheit erst sogar so hinein, daß wir uns durch ihr Licht erst vieler Dinge bildhaft zu erinnern vermögen, deren wir uns ohne sie nicht erinnerten. Reue bricht jene Schwelle des Stolzes, die aus unsrer Vergangenheit nur das aufsteigen läßt, was diesem Stolz Befriedigung gewährt und ihn rechtfertigt. Sie hebt die natürliche Verdrängungskraft des »natürlichen« Stolzes auf. Sie wird so ein Vehikel der Wahrhaftigkeit gegen uns selbst.

An diesem Punkte wird auch genau sichtbar der besondere Zusammenhang, den Reuebereitschaft zu dem System der Tugenden in der Seele besitzt. Wie ohne sie Wahrhaftigkeit gegen sich selbst nicht möglich ist, so auch ist sie selbst nicht möglich ohne die Demut, die dem die Seele auf ihren Ichpunkt und ihren Jetztpunkt einschnürenden natürlichen Stolze entgegenarbeitet. Nur wenn die Demut — als Erlebnisfolge eines stetigen Wandelns vor der klaren Idee jenes absolut Guten, dem wir uns nicht genügen sehn — die Verdrängungs-, Verhärtungs- und Verstockungstendenzen des Stolzes auflöst und den im Stolze gleichsam von der Dynamik des Lebensflusses isolierten Ichpunkt zu diesem Flusse und der Welt wieder in eine flüssige Beziehung setzt, nur dann ist Reuebereitschaft möglich. Der Mensch ist verhärtet und verstockt weit mehr aus Stolz und Hochmut denn aus der aus seiner Konkupiszenz geborenen Furcht vor Strafe, und er ist es um so mehr, je tiefer die Schuld in ihm sitzt und je mehr sie gleichsam ein Teil seines Selbst geworden ist. Nicht das Bekenntnis, sondern zuerst die Selbstpreisgabe vor sich selbst ist dem Verstockten so schwer. Wer seine Tat voll bereut, der bekennt auch seine Tat und überwindet selbst noch die Scham, welche im letzten Augenblick die Lippe schließen will [1].

Die Reue muß daher überall in ihrem Wesen, ihrem Sinn und in ihrer Leistung verkannt werden, wo man sie — gemäß jener Auffassung der Erinnerung, die den Erinnerungspunkt auf Reproduktion von sogenannten Gedächt nisbildern zurückführt, mit Zuständen verwechselt, die sie wohl disponieren und leichter auslösen können, die keineswegs aber die Reue selbst ausmachen. Es ist ganz richtig, daß die Erfolglosigkeit oder die übeln Folgen einer »bösen« Handlung die menschliche Schwäche leichter zur Reue disponieren als der positive Erfolg; daß also z. B. Gesundheitsschädigung, Krankheit usw. als Folgen von schuldhaften Exzessen, daß auch wohl Strafe, Tadel durch die Außenwelt, den Reueakt häufig da erst auslösen, wo er ohne sie vielleicht nicht ausgelöst worden wäre. Gleichwohl bleibt das der Reue als solcher anhaftende Leiden von dieser ganzen Gruppe der Unlustgefühle, welche die reuevolle Selbsteinkehr erst auslösen, durch eine große Kluft geschieden. Eine ganze Reihe der falschen psychologischen Reueauffassungen begeht — unbesehn ihrer andern Irrtümer — eben diesen Grundfehler, den Reueakt selbst mit den zu ihm disponierenden Zuständen zu verwechseln.

Aber die Eigenart der Rolle, die die Erinnerung im Akte der Reue spielt, ist mit dem Gesagten noch nicht erschöpft. Es gibt zwei grundverschiedene Typen des Erinnerns, die man als statischen und dynamischen Typus bezeichnen kann, oder auch als Funktions- und als Erscheinungserinnerung. Im Erinnern des ersten Typus verweilen wir beim Erinnerungserleben nicht bei irgendwelchen isolierten Inhalten, Vorkommnissen unsrer Vergangenheit, sondern bei unserm damaligen zentralen Verhalten zur Welt, bei unsrer damaligen Denk-, Willens-, Liebe- und Haßrichtung; wir leben unser gesamtes Verhalten oder das Sein und Verhalten unsrer damaligen Ich- und Personbestimmtheit nach. Wir »versetzen« uns in unser Ich der damaligen Zeit. Ganz scharf und klar tritt dieser Unterschied in gewissen pathologischen Erscheinungen zutage. Ich sah vor einigen Jahren in einem deutschen Irrenhaus einen 70jährigen Greis, der auf der Entwicklungsstufe seines 18. Jahres seine gesamte Umwelt erlebte. Das besagt nicht, dieser Mann wäre in den besondern Inhalten versunken gewesen, die er als 18jähriger erlebte, er hätte etwa Wohnung, Menschen, Straßen, Städte usw. vor sich gesehn, die damals seinen Umweltsgehalt ausmachten. Er sah, hörte, erlebte vielmehr durchaus alles das, was gegenwärtig um ihn im Zimmer vorging, aber er erlebte es »als« der Achtzehnjährige, der er damals war, mit allen seinen individuellen und generellenWillensgesinnungen, Strebenseinstellungen, Hoffens- und Furchtrichtungen in dieser Lebensphase. Die besondre Art von erinnerndem Nacherleben, wie sie hier extrem und als zuständliches System vor uns steht, macht uns möglich, nicht nur zu wissen, was wir faktisch taten und wie wir gegen unsre besondre Umwelt faktisch reagierten, sondern auch was wir je hätten tun, je wollen können, wie wir gegen diesen oder jenen Umstand reagiert hätten, wenn er uns entgegengetreten wäre. In diesem Erinnern führt der Weg nicht von den Inhalten unsers Lebens zum Ich, das sie erlebte, sondern von dem erlebenden Ich, in das wir uns versetzen, zu den besondern Inhalten des Lebens.

Die in den höhern und wichtigern Typus des Reueakts eingehende Erinnerung gehört aber der Art der Funktionserinnerung an. Nicht die im Erinnern erscheinende Tat der Vergangenheit, respektive der Unwertverhalt, daß wir die Handlung vollzogen, ist hier der eigentliche Reuegegenstand, sondern jenes Glied-Ich in unsrer Totalperson selbst, aus dessen Wurzeln die Tat, der Willensakt damals hervorfloß, wird nacherlebt, wird eben in der Art des Bereuens verworfen und aus der Totalität der Person gleichsam heraus gestoßen. Nur von einem je verschieden starken Vorwiegen des objektiven Unwertverhalts des Tat- und jenes vergangenen Glied-Ichs in der reuevollen Erinnerung darf daher auch dort die Rede sein, wo man mit einigen philosophischen Schriftstellern Seinsreue und Tatreue unterscheidet; oder auch »Bereuen« und »reuevolle« Selbsteinkehr. Besonders Schopenhauer hat wiederholt hervorgehoben, daß die tiefste Reueeinstellung nicht durch die Formel ausgedrückt sei: »Ach, was habe ich getan«, sondern durch die radikalere Formel: »Ach, was bin ich für ein Mensch«, oder sogar »was muß ich doch für ein Mensch sein, daß ich solches tun konnte«. Er meint überdies damit zu zeigen, daß grade der empirische Determinismus erst der Reue ihr volles Gewicht verschaffe, anderseits aber der weit tiefere und aufwühlendere Charakter jener zweiten Reue ein Beweis dafür sei, wie gleichwohl dabei unser » intelligibler Charakter « (Schopenhauer setzt diesen fälschlicherweise gar noch dem »angebornen Charakter« gleich) als Folge einer freien Tat betrachtet werde. Diese Auffassung aber reißt den ganzen Sinn der Reue entzwei. Ein Reueakt über unser personhaftes Sein überhaupt, ich meine über seine Wesensartung, ist eine innere Unmöglichkeit. Wir können allenfalls darüber traurig sein, daß wir sind, was wir sind, oder uns über dieses Sein entsetzen; aber — selbst abgesehn davon, daß auch diese Trauer über unser Wesen noch die Färbung dieses gleichen Wesens tragen wird — : wir können unser Wesen nicht bereuen. Was wir allein noch bereuen können, ohne dabei einzig und unmittelbar auf unsere Tatenreihe hinzublicken, ist: daß wir damals ein solches Ich waren, das jene Tat tun konnte!

Nicht die Tat, auch nicht unser Wesens-Ich liegen in diesem Reueakt gleichzeitig »hinter« und »unter« uns, sondern jene gesamte konkrete Konstitution des Ich, aus der wir in unsrer Erinnerung die Tat — und hier und unter Voraussetzung dieser Konstitution allerdings »notwendig« — hervorfließen sahn. Diese eigenartige Blickrichtung jenes tiefern, keine bloße Gesinnungs»änderung« oder gar bloße gute Vorsätze, vielmehr einen wirklichen Gesinnungswandel bedingenden Reueakts läßt sich nur verstehn daraus, daß die Art und Weise unsers Uns-selbst-Erlebens bestimmte Stufen der Sammlung und Konzentration besitzt, deren möglicher Wechsel nicht wieder im gleichen Sinne eindeutige Wirkung einer psychischen Kausalität ist, durch welche die psychischen Vorgänge auf jeder einzelnen dieser Stufen zweifellos kausal bestimmt werden. Die Änderung jener Sammlungsstufen der Persönlichkeit selbst, auf denen sie je lebt, ist also gegenüber der Kausalgesetzmäßigkeit, welcher die Erlebnisinhalte auf jedem dieser Sammlungsniveaus folgen, eine freie Tat unsrer Gesamtperson. Und dieser Gesamtperson gehören ja in letzter Linie alle jene wechselnden Ichkonstitutionen als erlebte Glieder an, aus denen wir die Tat notwendig (bei weiterer Gegebenheit dieser und jener Umstände) hervorfließen sehn. Der tiefere Reueakt gewinnt nun eben daraus seine volle Verständlichkeit, daß eine solche frei erwirkte Änderung des Sammlungsniveaus unsrer ganzen innern Existenz seine Begleiterscheinung ist. Wie notwendig auch uns also die Tat auf dem Niveau unsrer damaligen Existenz erscheint, wie streng historisch sie bis in alle ihre Einzelheiten hinein — wenn wir dieses Niveau einmal setzen wollen — »verständlich« ist: es war doch nicht gleich notwendig, daß wir uns auf diesem Niveau befanden. Wir hätten auch dieses Niveau ändern können. Wir »konnten« insofern auch anders sein, nicht nur konnten wir anders wollen und handeln. Darum ist auch dieses »Andersgekonnthaben« keine bloße falsche, auf Täuschung beruhende, Rückwärtsverlegung der ganz anderen Tatsache, daß wir etwa jetzt anders können oder zu können meinen. Vielmehr zeigt uns der Reueakt dieses »Können«, diese zentralste Willensmacht, noch als einen Erlebnisbestandteil im ganzen und frühern Erlebnisbestande selbst. Die Art aber, wie sich der gegenwärtige Akt der Erkenntnis des Bösen in unsrer damaligen Ichkonstitution, wie sich ferner das jetzige Sehn des Besserseins und des Bessern, das wir doch auch damals hätten sein, respektive tun können, mit dem gegenwärtigen Könnenserlebnis des Besserhandelns durchdringt, ist eine ganz eigenartige. Man könnte zunächst meinen, daß nicht erst der Reueakt die Niveauänderung, die Erhöhung unseres Selbst bewirke, daß dieser Akt vielmehr nur Zeichen und Folge davon sei, daß wir jetzt über unserem damaligen Ich und seiner Tat stehn. Danach könnten wir nur bereuen, weil wir jetzt freier und besser geworden sind. Ja, erst am jetzt erlebten »Können« des Bessern gemessen, fiele dann auf unsern frühern Zustand und seine Tat der Schatten schuldhafter Unfreiheit, in dem wir sie jetzt tief unter uns liegen sehn. Aber auf solch einfaches, rationales Entweder-Oder läßt sich die Sache nicht bringen. Dies vielmehr ist das Eigentümliche des Reueakts, daß im selben Akte, der schmerzvoll verwirft, auch die Schlechtigkeit unseres Ich und unserer Tat uns erst voll zur Einsicht kommt; und daß im selben Akte, der nur von dem »freiern« Standort des neuen Lebensniveaus aus rational verständlich scheint, dieser freiere Standort selbst erklommen wird. So ist der Reueaktus in gewissem Sinne früher als sein Ausgangspunkt und als sein Zielpunkt, früher als sein Terminus a quo, und sein Terminus ad quem. Erst im Reueakt geht uns darum die volle evidente Erkenntnis jenes Gekonnthabens eines Bessern auf. Aber diese Erkenntnis schafft nichts; sie ist Erkenntnis, Durchdringung der damaligen Benebelung durch die Triebe. Sie schafft nicht, sie zeigt nur an. Dieses Geheimnisvollste des lebendigen tiefern Reueakts — daß in ihm, nämlich im Laufe seiner kontinuierlichen Dynamik, eine ganze höhere, idealische Existenz als eine für uns mögliche erblickt wird: eine in der Sammlung fundierte mögliche Steigerung der Niveauhöhe des geistigen Daseins; daß wir nun den ganzen alten Ich-Zustand tief unter uns erblicken: dieses hat auch innerhalb der theologischen Konstruktionen zu mancher Schwierigkeit Anlaß gegeben. Insbesondre liegt diese Frage auch da analogisch mit zugrunde, wo das Verhältnis der göttlichen Nachlassung der Schuld zu der durch die heiligmachende Gnade erwirkten neuen Qualität des Menschen zur Verhandlung steht. Nur die bei »vollkommener« Reue eintretende freie Gnade kann, wie es scheint, die religiöse Schuld wahrhaft tilgen und aufheben; nicht also bloß bewirken, daß, wie bei Luther, Gott vor der Schuld die Augen schließe und sie nicht »anrechne«, während der Mensch weiter in Sünde und Schuld verharre. Aber anderseits scheint die Aufhebung der Schuld selbst wieder eine Bedingung für den Einlaß der Gnade zu sein. Denn die Gnade sowie der durch sie bedingte höhere Lebensstand können nur insofern im Menschen Platz greifen, als die Schuld aus ihm schon entfernt ist. Viele Theologen, zum Beispiel Scheeben, gebrauchen hier das glückliche Bild, daß die Schuld eben vor der in die Seele eintretenden Gnade ähnlich zurückweiche »wie die Finsternis vor dem Lichte« (Mysterien des Christentums, S. 531). Derart scheint nun die Reue nicht mehr jene Niveauerhöhung des sittlichen Seins schon vorauszusetzen, die sie doch erst herbeiführen soll. Es ist also ein- und derselbe dynamische Aktus, durch den sowohl das Aufklimmen des Ich auf die ihm mögliche Höhe seines idealen Wesens erfolgt, wie das steigende Untersichsehn, die Verwerfung und Ausstoßung des alten Ich.

Wie wir im selben Aktus des Steigens auf einen Berg die Spitze sich uns nähern und das Tal unter unseren Füßen versinken sehen und beide Bilder durch diesen Aktus bedingt erleben, so klimmt die Person in der Reue zugleich empor und sieht die ältere Ich-Konstitution unter sich.

Je mehr die Reue sich von der bloßen Tatreue auf die Seinsreue hinbewegt, um so mehr ergreift sie die erschaute Schuld an der Wurzel, um sie aus der Person auszustoßen und dieser damit ihre Freiheit zum Guten zurückzugeben. Um so mehr führt die Reue vom Schmerz über eine einzelne Tat, zu jener vollständigen »Zerknirschung des Herzens«, aus der die ihr selbst einwohnende regenerative Kraft ein »neues Herz« und einen »neuen Menschen« auferbaut. In dem Maße nimmt die Reue auch den Charakter der eigentlichen Bekehrungsreue an und führt schließlich von der Fassung neuer guter Vorsätze durch die tiefere Gesinnungsänderung zum echten Gesinnungswandel, ja zur »Wiedergeburt« hin, in der die letzte Wurzel unsrer sittlichen Akte: das geistige Personzentrum, sich selbst (unbeschadet seiner formalen und individuellen Identität) in seinen letzten materiellen Intentionen zu verbrennen und neu aufzubauen scheint. —

Noch ist einiges über zwei der vorhin genannten skeptischen Thesen zu sagen : über die Furcht- und die Rachetheorie.

Schon im werdenden Protestantismus spielt die Furchttheorie eine große Rolle. Luther und Calvin setzen das Wesen der Kontrition selber in die »Terrores conscientiae«, in jene Angst vor der Hölle, die sich nach Einsicht in die fehlende Kraft des Menschen, das Gesetz zu erfüllen, einstelle. Dieser Schreck ist Luther für den seine Sündenlast und sein notwendiges Ungenügen vor dem Gesetze Gottes fühlenden Menschen das einzige treibende Motiv, sich durch den Glauben an Jesu sühnendes Blut und der durch dieses Blut bewirkten Genugtuung und Barmherzigkeit Gottes der Rechtfertigung zu versichern. Indem Jesus mit der Fülle seiner Verdienste das sündige und bis zum Tode sündig bleibende menschliche Herz vor den Augen Gottes gleichsam »zudeckt« , wird dem Sünder »die Sünde nicht angerechnet«, das heißt wohl die Strafe für sie erlassen. Der »gute Vorsatz«, sowie eine gewisse Verminderung der Sünde werden erst von dem schon eingetretenen Erlebnis dieser völlig unverdienten Barmherzigkeit Gottes und dem damit gegebenen neuen Gnadenstand erwartet. Der Vorsatz ist also von der Reue hier völlig abgelöst. Weder eine wahre Auslöschung der Schuldqualität — wie wir sie als Tatbestand vorfanden — noch eine darauf folgende Heiligung, die in die Seele an Stelle der Schuld eine neue heiligende Qualität trüge, ist hiernach der Sinn der göttlichen »Vergebung« der Sünde. Vielmehr ist dieser ganze Sinn allein die Nachlassung der Strafe und die — unfaßliche und schon der Allwissenheit Gottes völlig widerstrebende — Annahme des Sünders, Gott »sehe« nun nicht mehr auf seine Sünde.

Aber auch die neue Philosophie beginnt sogleich mit der Furchttheorie:
»Reue (gemäß Spinoza Eth. IV. 45. Satz) ist keine Tugend und entspringt nicht aus der Vernunft; sondern Der, welcher eine Tat bereut, ist doppelt gedrückt und unvermögend.« »Denn wer eine Tat bereut, leidet doppelt, indem er sich zuerst durch eine verwerfliche Begierde und darnach noch durch die Unlust darüber besiegen läßt.« Auch Spinoza leitet die Reue (diese »Unlust, begleitet von der Idee der Tat, die wir aus freier Entschließung des Geistes getan zu haben glauben« , wie seine ganz unmögliche Definition lautet) aus der Furcht ab. Nach der Erläuterung zu dieser Definition ist die Reue eine Folge des Tadels und der Bestrafungen durch die Umwelt, respektive eine Furcht, die sich, von der Wirkung ausgehend, mit der Idee der uns als »Unrecht« geltenden Tat verbindet. »Je nach seiner Erziehung bereut also der Mensch eine Tat oder rühmt er sich derselben.« Die Reue ist daher für Spinoza nur eine relative Tugend, nämlich eine Tugend nur für den Pöbel. »Der Pöbel ist furchtbar, sofern er nicht fürchtet.« Doch sei Reue keine Tugend für den »freien Menschen« ; dieser werde durch die Vernunft selbst geleitet.

Was dieser Furchttheorie radikal widerspricht, das ist vor allem die Tatsache, daß es umgekehrt gerade die Furcht zu sein pflegt, die uns gar nicht in jene Gemütslage der Sammlung gelangen läßt, worin die eigentliche Reue erst möglich wird. Die Furcht lenkt unsre Aufmerksamkeit und unser Interesse nach Außen — auf die nahende Gefahr. Solange der Verbrecher sich verfolgt weiß, solange wird er, als aktiver Typus, trotzig für seine Tat einstehn, und alle Energie wird der Aufgabe zufallen, »sich nicht erwischen zu lassen«. Als passiver Typ wiederum wird er sich durch die Furcht niederschlagen lassen und sich in sein Schicksal unwillig ergeben. Wenn ihn in beiden Fällen nichts anderes hindern würde an dem Vollzug des Aktus der Reue — die Furcht gerade würde es tun. Erst dann vielmehr, wenn er sich außer jeder Gefahr weiß, kann er jene »Sammlung« finden, welche die echte Reue voraussetzt. Erst dann findet er jenes restlose Alleinsein mit sich und mit seiner Tat, ohne das es keine Reue gibt. Davon abgesehn vermögen wir unserem Bewußtsein aufs deutlichste die nach rückwärts gerichtete Reue über eine Tat von der gleichzeitig vorhandenen, auf die Zukunft gerichteten Furcht zu unterscheiden und dabei festzustellen, wie sich beide in gleichsam ganz verschiedenen Schichten unsrer Existenz abspielen: wie die Furcht aus dem Zentrum unsers Lebensgefühls hervorbricht und mit Absehung von dessen Träger, dem Leibe und seinen Erregungen, ganz aufgehoben wäre; die Reue hingegen aus unserm geistigen Persönlichkeitszentrum fühlbar hervorquillt und auch mit Absehung von unserm Leibbesitz nicht nur möglich, sondern sogar nach Aufhebung der unser Böses uns verbergenden leiblichen Triebschranken erst ganz vollkommen würde. Schon diese Selbsständigkeit des Daseins im Gleichzeitigen von Furcht und Reue in bezug auf denselben Wertverhalt der Tat beweist, daß Reue keine seelische »Entwicklungsform« der Furcht sein kann — da dann doch die Furcht schon in dem neuen Gebilde der Reue verbraucht sein müßte, also nicht noch neben dieser in uns existieren und uns erfüllen könnte.

Diese Sätze gelten natürlich auch dort, wo es sich um die Furcht vor den göttlichen Strafen handelt. Bloße Furcht vor dem Strafübel, »knechtische Furcht«, ist überhaupt keine Reue. Sie ist auch keine attritio, welche die Theologie von der contritio, das heißt der in Liebe zu Gott als dem in sich selbst liebenswertem höchsten Gute gegründeten »vollkommenen« Reue mit Recht unterscheidet. Ja, die attritio ist weder Furcht vor dem bloßen Strafübel, noch gründet sie auch nur in solcher Furcht. Sie mag durch Furcht vor der Strafe als einer Äußerung der göttlichen Gerechtigkeit ausgelöst werden; niemals aber von Furcht vor dem Strafübel als bloßem Übel. Der Reueaktus selbst ist aber auch dann gegenüber diesem Auslösungsvorgang etwas ganz Neues, das nicht etwa diese Furcht vor der Strafe selbst ist. Aber auch ausgelöst kann sie hierbei nur werden, wenn die sogenannte Furcht vor der (ewigen oder zeitlichen) Strafe nicht primär auf das bloße Strafübel, sondern auf die Strafe als einen Akt und Ausdruck der ewigen Gerechtigkeit gerichtet ist — also immer gleichzeitig in der Ehrfurcht und Achtung vor der diese Gerechtigkeit handhabenden und strafsetzenden Gottheit mitfundiert ist. Ist hierbei die attritio eine untere Stufe zur contritio, so gilt doch auch hier, daß überall, wo die contritio einer Person möglich wäre, die bloße attritio auch eine Art Hemmung für den Eintritt der contritio darstellt — dem Gesetze gemäß, daß Furcht überhaupt die Reue mehr hemmt als entwickelt [2].

Nicht minder unbegreiflich ist vom Standort der Furchtlehre, wieso die Furcht sich nur dort in Reue verwandeln soll, wo der persönliche Unwert oder die betreffende Handlung ein sittlich und religiös Bedeutsames darstellen. Wieso sind ein häßliches Gesicht oder irgendeine Minderbegabtheit oder ein Organdefekt zum Beispiel, mit denen man tausendmal anstieß und immer wieder neu anzustoßen fürchten muß: wieso sind alle diese Unwerte niemals Gegenstand der Reue, sondern höchstens Gegenstände der Selbstqual, der Trauer, des Ekels vor sich selbst, der Rache gegen sich? Wieso bereuen wir niemals ein schlechtgelungenes Kunstwerk, eine schlechtgeratene Arbeit im gleichen Sinne wie etwa einen Diebstahl oder eine Wechselfälschung? Außer, sofern wir die schlechte Qualität dieser Dinge wieder auf die sittliche Mangelhaftigkeit in der Ausübung der zu den Werken nötigen Fertigkeiten (nicht aber auf unsre Begabung) zurückführen müssen. Ist etwa die bloße Unlust von Hause aus geringer, die uns aus solchen Defekten, dazu aus Unklugkeit oder aus fehlenden Anlagen quellen kann? und gibt sie in minderem Maße Anlaß zu Furcht und zu Unlust an »der Idee unser selbst, als der Ursache unsrer Unlust«? Gewiß nicht. Trotzdem fehlt in solchen Fällen Alles, was man Reue nennen könnte. Wenn es also notwendig zur Reue gehört, daß der »bereute« Unwert ein Unwert von der besondern Qualität des “Bösen” ist — und daß dieser Unwert in dem die Reue mitfundierenden Fühlen dieses »Bösen« gegeben ist: warum sollte dann dieser Unwert allein, das heißt die innere Natur des Bösen selbst, nicht genügen, um seine emotionale Negation im Akte der Reue zu bestimmen? Was sollte irgendwelche Furcht vor den Folgen der Handlung, als der bloßen Trägerin dieser Qualität des »Bösen«, hinzutun? Oder wie sollten erst Nachwirkungen dieser Furcht hinzutreten müssen, um die Reue zu ermöglichen? Die Furcht löst zuweilen Reue aus; noch öfter aber verunreinigt sie die Reue; das ist das Ergebnis. Furcht ist in jeder möglichen Form — auch als objektlose, das heißt durch einen besonderen Objektinhalt nicht erfüllte — ein Vorfühlen, ein Fernfühlen gefährdender oder lebensschädlicher Umstände »vor« der faktischen Schädigung. Reue wendet sich notwendig zurück. —

Etwas tiefer schon greift die Rachetheorie. Es gibt zweifellos einen gegen uns selbst gerichteten Racheimpuls. Wenn das Kind sich selbst schlägt, weil es etwas »Unrechtes« getan hat, wenn wir uns »die Haare ausraufen« möchten, weil wir so und so handelten, wenn tausend Formen von Selbstpeinigung, welche die Geschichte kennt, nicht notwendig Bußen gegenüber der Gottheit darstellen oder der Entleiblichungsaskese dienen, sondern an sich alle Zeichen einer natürlichen Rache oder Sühnehandlung gegen das Ich tragen: dann erscheint es wohl richtig, einen ursprünglichen Racheimpuls des Menschen auch gegen sich selbst anzunehmen. Denn es geht kaum an, einen solchen Impuls auf eine bloße seelische Ansteckung durch den vorgefühlten Tadel der Umwelt zurückzuführen; oder gar auf eine unwillkürliche Sympathie mit dem Racheimpuls eines Andern, das heißt einen ohne oder gegen unseren Willen eintretenden Mitvollzug dieses Racheimpulses gegen uns, wie dies Adam Smith in seiner falschen Sympathielehre [3] tat. Der Racheimpuls ist also in der Tat ursprünglicher als die besondere Wahl zwischen Ich und Nichtich als seinen Gegenstand. Er vermag sich gleich ursprünglich gegen uns selbst wie gegen andere Personen zu wenden. Es gibt heute Schriftsteller, deren ganzes Schaffen von innerem wilden Rachedurst gegen sie selbst und Alles, was mit ihnen verbunden ist, wie gespeist scheint. Sie schlagen in ihren Satiren nur zum Schein auf ihre Gestalten los. Sie meinen nur sich selbst. Es ist also gar nicht nötig, mit Nietzsche solche Selbstrache erst als eine Folge und äußere Rückwendung der gestauten Abfuhr des Racheimpulses gegen Andere und anderer ähnlicher Impulse anzusehen. Der ungemessene Racheimpuls sowie seine vernünftige Kultur, der nach Proportion abgemessene Vergeltungsimpuls, sind Beide eine unmittelbare Reaktion auf gewisse Arten von geschauten Unwertverhalten, die von sich aus »Sühne fordern« [4] . Besonders der Impuls der Vergeltung erfolgt, noch ehe der Täter und Setzer des bemerkten Unwertverhaltens bekannt oder vorgestellt ist; er sucht also erst danach seinen Gegenstand; und er setzt darum auch nicht aus, wenn sich herausstellt, man sei selbst dieser Täter. Aber keinerlei »Vergeistigung« dieser beiden Impulse vermag uns den Tatbestand des Reueaktes zu erklären! Wohl scheint diese Theorie manche Züge des Aktes verständlich zu machen, welche zum Beispiel der Furchthypothese ganz unzugänglich sind: so die wesensnotwendige Vergangenheitsbeziehung des Reueaktes, die besondere Art der wühlenden Schärfe des Reueschmerzes, die aus der Reue quellende Bußgesinnung zur »Sühnung« des Unrechts — und anderes mehr. Aber den Kern des ganzen Aktes läßt auch diese Hypothese ganz dunkel. Was der Rache und der Vergeltung gegen sich selbst besonders dazu fehlt, um der Reue auch nur im Tiefern ähnlich zu sein, das sind: 1. die Geistigkeit (vergl. das über die mögliche Abstraktion vom Leibe Gesagte) und Innerlichkeit des Reueaktes samt dem Medium von Stille, Ruhe, Ernst, Sammlung, in die er eingebettet ist; 2. das im Reueakt sich vollziehende Ansteigen auf ein höheres Lebensniveau — und die Mitgegebenheit eines idealischen Wertbildes, ja Heilsbildes unserer Person, das uns vorher verborgen war und auf das wir jetzt in »Liebe, in Liebe zu unserm Heile« bezogen sind; 3. die Kräftigung und Befreiung unsers sittlichen Selbst zu Vorsatzfassung und zur Gesinnungsänderung durch die Reue; 4. die Beschränkung auf das Böse und auf die sittliche Schuld (die der Reue allein eignet), wogegen Rache eine jede Art von empfundenem Selbstunwert und jede Verursachung von Unwertverhalten treffen kann. Die Rache-Einstellung gegen das Ich ist ein Zustand voll Erregung, dem jede Fundierung durch den Hinblick auf ein positives Leitbild des Selbstseins und Selbstwerdens fehlt. Dabei bleibt die Einstellung noch ganz unfruchtbar.

Eines freilich soll dabei nicht bestritten werden. Daß wir eine starke Neigung haben, — wenn nur irgend möglich — alle irgendwie, auch pathologisch bedingten Zustände der Selbstqual oder der Unlust an uns selbst, als der Ursache gewisser Handlungen und Zustände, mit echter Reue zu verwechseln oder sie als Reue uns gut zu schreiben. Aber solche Selbsttäuschungen, die so häufig auch zu Fremdtäuschungen führen, setzen sowohl das Phänomen der echten Reue als auch die positive Wertschätzung dieses Phänomens voraus. Die Menschen neigen freilich dazu in ihre Grausamkeit gegen sich selbst, in ihre krankhafte Schmerzliebe, die »wollüstig im Leiden an der Sünde wühlt«, in ihren Rachedurst gegen sich selbst, in ihre moralischen Schwächezustände, in ihre geheime Furcht oder in ihr zwangsmäßiges Grübeln über ihre Vergangenheit, in jenen »schlechten Blick«, den sie zuweilen wie gegen Alles so auch gegenüber sich selbst haben, das Gott wohlgefällige Bild eines reuevollen Herzens hinein zu phantasieren und diese ihre geheimen Laster oder ihre seelischen Erkrankungen unter dem Scheinbilde einer Tugend zu verstecken. Aber dieses Schicksal der Reue (das sie mit jeder Tugend, ja mit jedem Vorzug teilt), das Schicksal, daß sie sich selber und andern vorgespielt werden kann, sollte niemandem, der sich Psychologe dünkt, Anlaß dazu werden, die Reue selbst hinter diesen ihren Scheinbildern aus dem Blicke zu verlieren.

Der Reueakt ist nicht — womit man zumeist beginnt — ein zuständliches »Unlustgefühl«, welches sich zu irgend welchen »Ideen« von Handlungen geselle, als deren Täter der Mensch sich kennt. Überlassen wir diese Platitüde der herkömmlichen Assoziationspsychologie. Reue ist vielmehr eine zielmäßige Bewegung des Gemüts angesichts der Schuld, und auf jene Schuld hin, die sich im Menschen angesammelt hat. Das Ziel dieser »Bewegung« ist eine emotionale Negation und eine Entmächtigung der Fortwirksamkeit der Schuld, eine geheime Anstrengung, diese aus dem Personkern herauszustoßen, um die Person »heil« zu machen. Erst die Rückwirkung des im Akte der Reue zuerst ansteigenden Schulddrucks auf diese Bewegung macht den Reueschmerz aus. Der Schmerz steigt mit der Unnachgiebigkeit der Schuld — die selbst wieder um so größer ist, je tiefer sie im Kern der Person sitzt. Nicht dieser Schmerz also, vielmehr die Bewegung gegen die Schuld und die Tendenz, ihre Fortwirksamkeit zu brechen, sind das Erste. Der Schmerz ist erst Folge und das Zweite. Die besondere Natur des Reueschmerzes ist scharf, brennend, aufwühlend; ihm fehlt jede Dumpfheit. Neben dieser Qualität als Schmerz aber besteht im Ganzen des Vorgangs gleichzeitig noch eine Befriedigung, die bis zur Seligkeit ansteigen kann. Befriedigung und Lust, Mißbefriedigung und Unlust haben ja nichts miteinander zu tun; ja die fühlbar tiefer gelagerte Befriedigung steigt sogar mit der Stärke des Reueschmerzes. Ist es also etwa die innere Auffassung jenes Schmerzes als Sühnung der Schuld, oder ist es die Abnahme des Schulddrucks im Verlauf der Reue, was die Befriedigung gewährt? Das erstere könnte man annehmen, wenn man die Reue als eine Art geistiger Vergeltung, nämlich als Selbstvergeltung, auffaßte. Aber diese Annahme ist, wie gezeigt, irrig. Der Gehorsam gegen die Sühneforderung ist Sache der Buße und nicht der Reue. Dieser Gehorsam kann auch ohne fundierende Reue erfolgen. Denn wohl wächst notwendig die Bußgesinnung aus der Reue so notwendig heraus wie die Bekenntnisbereitschaft, nicht aber umgekehrt die Reue aus der Bußgesinnung. Und noch weniger ist diese Gesinnung die Reue selbst. Am wenigsten aber ist Reue ein Schmerz, der an sich als Schmerz befriedigt; es sei denn, daß anstatt echter Reue eben eine Reueillusion vorliegt, die in Schmerzliebe gegründet ist. Die Pietisten zum Beispiel haben diese beiden Dinge häufig verwechselt: daher die stark sinnliche, fast masochistische Färbung ihrer religiösen Reue-Literatur. Die zunehmende Befriedigung ist faktisch also Folge der langsamen Abnahme des Schulddrucks. Sie vollzieht sich mit der objektivierenden Heraussetzung der Schuld aus dem Personkern wie von selbst.

Ist die Reue eine Entmächtigung der Schuld, so muß die Schuld auch irgendwie gegeben sein, wenn die Reue als Gegenakt einsetzt.

Was ist nun aber diese »Schuld«? Sie ist jene Qualität »böse«, die der Person selbst, dem Aktzentrum, durch ihre bösen Akte dauernd zugewachsen ist. Eine Qualität also, nicht aber ein »Gefühl« ist die Schuld. Das sogenannte »Schuldgefühl« ist von anderen Gefühlen selber nur durch seine innere Sinnbeziehung auf diese Qualität unterschieden. Ob man sich also auch schuldig fühle oder nicht — die Schuld haftet. Die Feinheit oder Stumpfheit des Schuldgefühls, resp. die Schwellenwerte des Fühlens der Schuld sind vom Dasein der Schuld und ihrem Ausmaß sehr verschieden. Gehört doch gerade dieses zu den dunkelsten Wirkungen der Schuld, daß sie sich im Wachsen gleichsam selbst verbirgt und das Gefühl für ihr Dasein abstumpft. Und gehört es doch umgekehrt zum Wachstum der Demut und Heiligkeit im Menschen, daß — wie das Leben aller Heiligen bezeugt — das Fühlen der Schuld gerade mit ihrer objektiven Abnahme sich funktionell verfeinert und daß daher immer geringere Verfehlungen schon schwer empfunden werden. Der Reueakt richtet sich denn auch durchaus nicht gegen das Schuldgefühl, — das er ja vielmehr gerade breit entfaltet und ausdehnt — er richtet sich vielmehr gegen jene objektive Qualität der Schuld selbst. Aber er richtet sich auf die Schuld »durch« das Fühlen der Schuld hindurch, so wie der Akt geistigen Beachtens oder eine Bedeutungsintention durch das Sehen eines Gegenstandes, oder durch das Hören sich auf diesen Gegenstand richtet. Irgendein Fühlen von Schuld — meist zuerst unlokalisiert bezüglich der Fragen »was?« und »gegen wen?« oder »von wem verschuldet?« — muß also auf alle Fälle den Reueakt einleiten. Seine Ausbreitung, seine Lokalisierung, Richtung, seine Tiefe jedoch — häufig selbst erst sein bestimmtes Objekt z. B. diese und jene Tat — pflegt das Gefühl der Schuld erst während der Reue und nur durch sie zu finden. Ist die Schuld freilich so sehr angewachsen, daß sie selbst das Gefühl ihres Daseins ganz oder beinah erstickt, so ist jene partiale oder totale »Verhärtung« vorhanden, welche die Reue nur schwer oder nicht mehr durchbrechen kann. Da die Schuld eine Qualität der Person, des Aktzentrums des Menschen, ist, die aus ihren Akten und Taten als ein die Person »Erfüllendes« der Person zuwuchs: so ist sie auch, so lange sie besteht, in jedem Akte, den die Person vollzieht, heimlich mitgegenwärtig. Nicht die kausalen Folgen der bösen Taten als reale Wirklichkeiten der Natur bringen notwendig ein ferneres Böse hervor; sie können rein kausal ebensowohl Gutes bewirken oder Gleichgültiges. Es gibt keine moralische Kausalität in diesem Sinne. Aber die Schuld, das finstere Werk dieser Taten in der Seele selbst, geht in alles mit hinein, was der Mensch will und tut; und sie bestimmt ihn, ohne sein Wissen in ihrer Richtung weiterzuschreiten. Insofern ist auch jede Tatreue nicht unmittelbar Reue über eine Tat, sondern Reue über das Verschuldetsein der Person durch die Tat. Von der Seins-Reue bleibt die Tatreue gleichwohl durch den primären Hinblick auf den Unwertverhalt der Tat geschieden.

Aber was vermag nun dieser Stoß der Reue wider die Schuld? Zwei Dinge, die nur er allein vermag und nichts sonst. Er kann nicht die äußere Naturwirklichkeit der Tat und ihre Kausalfolgen, auch nicht den ihr als Tat zukommenden bösen Charakter aus der Welt schaffen. Diese alle bleiben in der Welt. — Aber er vermag die Schuld als das rückgewirkte Werk dieser Tat in der Seele des Menschen — und damit die Wurzel einer Unendlichkeit von neuer böser Tat und neuer Schuld — völlig zu töten und auszulöschen. Die Reue vernichtet wahrhaft jene psychische Qualität, welche »Schuld« heißt. Sie vermag dies wenigstens in ihrer vollkommenen Gestalt. Sie sprengt also die Kette der durch das Schuldwachstum der Menschen und Zeiten vermittelten Fortzeugungskraft des Bösen. Sie macht eben damit neue, schuldfreie Anfänge des Lebens möglich. Die Reue ist die mächtige Selbstregenerationskraft der sittlichen Welt, die ihrem steten Absterben entgegenarbeitet.

Das ist die große Paradoxie der Reue, daß sie im Blicke tränenvoll zurücksieht, aber doch freudig und mächtig nach der Zukunft hin, nach der Erneuerung, nach der Befreiung vom sittlichen Tode hinwirkt. Ihr geistiger Blick und ihr lebendiges Wirken sind sich genau entgegengesetzt. Der Fortschrittler, der Meliorist, der Perfektionist, sie alle sagen: Nicht bereuen, sondern besser machen. Ja das Gute — es erscheint ihnen selbst nur das bessere von Morgen zu sein. Aber dieses ist nicht minder paradox: Je mehr diese Leute nach vorne sehn und immer neue Projekte des »Bessern« in ihrem tatenlustigen Busen wälzen, desto furchtbarer zerrt die Schuld der Vergangenheit an ihrem innern Tun, zerrt sie schon in der Inhaltswahl ihrer Vorsätze und Projekte — nicht erst in ihrer Ausführung; desto tiefer sinkt der ewige Flüchtling seiner Gegenwart und Vergangenheit eben dieser Vergangenheit in die toten Arme. Denn genau um so mächtiger wirkt die Schuld der Geschichte, je weniger man sie gegenständlich sieht und bereut. Nicht: »Die Reue unterlassen und das Getane künftig besser machen wollen«, sondern: »Bereuen, und eben darum besser machen«, lautet die rechte Weisung. Nicht die Utopie, sondern die Reue ist die revolutionärste Kraft der sittlichen Welt.

Sehen wir also auf den Akt der Fassung des guten Vorsatzes, auf Gesinnungsänderung und Gesinnungswandel, auf das »neue Herz« : so ist dies alles kein von der Reue abgelöstes nur zeitlich folgendes willkürliches Tun oder eine ebensolche Hervorbringung, welche die Reue wie ein Überflüssiges überspringen könnte. All dies quillt aus der Reue wie von selbst hervor. Denn all dies ist nur die Frucht der natürlichen Tätigkeit der sich selbst überlassenen, von Schuld freigewordenen, wieder in sich selbst und ihr ursprüngliches Hoheitsrecht eingesetzten Seele. Je weniger der »gute Vorsatz« schon im Reuevorgang intendiert wird, desto machtvoller wird er sich am Ende, eigenmächtig und fast ohne Nachhilfe des bewußten Willens, aus der Reue wie von selbst erheben. Und je weniger der Bereuende geistig in seinem Reueakt auf die Güte des jetzt bereuenden Ich hinschielt — und damit auch die Reue zu einem neuen Anlaß seiner Eitelkeit und eines geheimen Ruhms vor sich selbst oder gar vor Gott macht — ; je schmerzensreicher er wie verloren ist in die Tiefe seiner Schuld: auf desto königlichere Weise reckt sich, ungesehn von ihm selbst, seine gottgeschaffene Seele empor aus jenem Staube des Irdischen, der sie bisher durchdrang: und der ihr den freien Atem nahm. Je tiefer hinein in die Seins-Wurzeln eines persönlichen Aktzentrums die Reue hierbei greift: desto mehr erscheint sie uns als ein Vorgang, der auf höherem, geistigem Gebiete dasselbe ist, wie auf biologischem Gebiete der von Goethe beschriebene elementarste Fall von Wiedergeburt und Tod des Tieres, in dem beide wie in einem Prozeß zusammenfallen und das sich selbst zerlegende Tier sich wieder neu aufbaut.

Denn es gibt keine Reue, die nicht den Bauplan eines »neuen Herzens« schon von ihrem Anbeginn in sich trüge, Reue tötet nur, um zu schaffen. Sie vernichtet nur, um aufzubauen. Ja, sie baut schon dort heimlich, wo sie noch zu vernichten scheint. So ist Reue die gewaltige Tatkraft in jenem wunderbaren Prozesse, den das Evangelium »Wiedergeburt« eines neuen Menschen aus dem »alten Adam«, Empfang eines »neuen Herzens« nennt.

Es ist eine sehr äußerliche Vorstellung, daß die Reue nur angesichts ganz besonderer, zutage liegender Missetaten und Verschuldungen einzusetzen habe, die dann ebensosehr wie die auf sie bezogenen Reueakte eine bloße Summe bildeten, indem die Verschuldungen durch eine Summe von Reueakten beglichen werden sollten. Das dunkle Erdreich der Schuld, von der wir reden, hat solche Taten und Verschuldungen nur zu seinen sichtbarsten Baumgipfeln. Die Schuld selbst bildet das verborgne Kraftreservoir in der Seele, aus dem jene einzelnen Verschuldungen sich nähren. In dieses unterirdische Reich der Seele, in das verborgene Reich ihrer Schuld muß sich die Reue hinabsenken, ja hinabgleitend das Bewußtsein für ihr dunkles und verborgenes Dasein allererst wecken. Wer daher spräche: »Ich bin mir keiner Schuld bewußt; also habe ich nichts zu bereuen« — der wäre entweder ein Gott oder ein Tier. Ist der Sprechende aber ein Mensch, so weiß er vom Wesen der Schuld noch nichts. —

Und auch darüber werde sich der Mensch klar: Die Reue ist nicht nur ein Vorgang in der individuellen Seele, sie ist gleich ursprünglich wie die Schuld auch ein soziale historische Gesamterscheinung. Das große Prinzip der Solidarität [5] aller Kinder Adams in Verantwortlichkeit, Schuld und Verdienst besagt, daß Bestand der Mitverantwortlichkeit und Tatsache und Bewußtsein jedes Einzelnen von seiner Mitverantwortlichkeit für alles Geschehen des moralischen Kosmos nicht erst geknüpft sind an jene je sichtbaren, nachweisbaren Wirkungen, welche die Einzelnen direkt oder durch die Mittelglieder der ihnen erkennbaren sozialen und historischen Kausalgewebe aufeinander ausüben. Diese Wirkungen und das Bewußtsein von ihnen lokalisieren vielmehr nur den Blick auf jene Punkte des moralischen Kosmos, für die wir unsere Mitverantwortung auch bestimmt kennen können. Nicht aber schaffen sie erst die Mitverantwortung und das uns — sofern wir sittlich geweckt sind — stets begleitende Gefühl von ihr. Die pure Form der Mitverantwortlichkeit aber: das stete Bewußtsein, daß auch die gesamte moralische Welt von Vergangenheit und Zukunft, aller Sterne und Himmel, ganz radikal anders sein könnte, wenn »ich« nur »anders« wäre; das tiefe Gefühl dafür, daß die geheimen Gesetze des Echos von Liebe und Haß und die Gesetze ihrer Fortpflanzung durch die Unendlichkeit alle Regungen aller endlichen Herzen zu einem jeweilig anders gearteten Zusammenklang, oder zu einer jedesmal andersgearteten Disharmonie gestalten, die von dem Ohre Gottes nur als ungeteiltes Ganzes vernommen und gerichtet werden — diese ursprüngliche Mitverantwortlichkeit ist für den Bestand eines moralischen Subjekts genau so wesentlich, wie es die Selbstverantwortlichkeit ist. Die Mitverantwortlichkeit wird nicht erst durch besondere Akte der Verpflichtung oder durch ein Versprechen gegen Andere »übernommen« , sondern sie ist schon die innere Voraussetzung auch für die Möglichkeit dieser Verpflichtungen. Darum ist auch die Reue gleich ursprünglich auf unsre Mitschuld an jeglicher Schuld bezogen wie auf unsre Selbstverschuldung; ebenso ursprünglich auf die tragische Schuld, der wir unverschuldet »verfallen«, wie auf die verschuldete Schuld, die wir frei wählend auf uns nahmen; ebenso ursprünglich auf die Gesamtschuld und Erbschuld der Gemeinschaften, der Familien, Völker und der ganzen Menschheit wie auf die Einzelschuld. Es heißt die christliche Lehre, die das Solidaritätsprinzip zu einer ihrer Wurzeln hat, sehr flach ausdeuten, wenn man sagt, man solle angesichts fremder Schuld nur nicht »richten« , vielmehr seiner eigenen individuellen Schuld erinnernd gedenken. Man soll vielmehr — dieses ist der wahre Sinn der Lehre — nicht nur seiner eigenen Schuld gedenken, sondern sich auch wirklich mitschuldig fühlen an dieser »fremden« Schuld und an der Gesamtschuld der Zeit; und man soll darum auch solche Schuld als seine » eigene« mitbetrachten und mitbereuen. Das ist der wahre Sinn des mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!

Dergestalt sehen wir auch in der Geschichte, wie der Reueakt zu einem machtvollen Strome werden kann; wie er ganze Völker, ja Kulturkreise generationenlang durchrauscht; wie er die verstockten und verhärteten Herzen öffnet und lebensweich macht; wie er die angesammelte Schuld der Zeiten aus dem Gesamtleben der Gemeinschaften herauszustoßen sich anschickt; wie er die dem Völkerstolze verborgene Vergangenheit der Völker Geschichte belichtet, wie er die vorher immer mehr sich einengende Zukunft wieder zu einem weiten hellen Plane von Möglichkeiten erweitert — und so die Regeneration auch eines moralischen Gesamtdaseins vorbereitet. Diese Vorgänge einer Gesamtreue — für eine angesammelte Gesamtschuld — kehren in eigentümlicher Rhythmik durch die Geschichte fast aller großen Gemeinschaften hindurch wieder. Sie erscheinen in den mannigfachsten Formen und Ausdrucksweisen — je nach dem sozialen System und je nach der positiven Religion und Sittlichkeit der Völker. Das junge Christentum hat nicht zum mindesten durch die unversieglichen Tränen seiner Reue die in Genuß-, Macht- und Ruhmsucht verhärtete Welt des ausgehenden Altertums erneut und ein neues Gefühl der Jugend dieser Welt eingegossen. Welch großer Teil aller Gedanken und Gefühle der patristischen Literatur ist von dieser Reue wie durchdrungen! Eine andere gewaltige Reuewelle durchläuft die Völker Europas nach der immer wilder und lebensfeindlicher um sich greifenden Rohheit des elften Jahrhunderts. Diese Reue vernichtete die damalige verzweifelte, die letzte Utopie: es werde demnächst das Ende der Welt eintreten und Christus wiederkommen — und sie bereitete damit jene geistige und religiöse Wiedergeburt vor, deren größter Führer der heilige Bernhard von Clairveaux werden sollte. Dona Lacrimarum, so nannte man damals das neue Gnadengeschenk eines Reue- und Bußwillens, in welchem Europa sich zu seiner großen Unternehmung der Kreuzzüge zusammenschloß, und in welchem die Erneuerung des alten, unter einem rohen, verderbten und verweltlichten Geiste der Geistlichkeit und unter der schrankenlosen Willkür der weltlichen Mächte erstarrten kirchlichen Lebens sich vollzog. »Es erwachte aus der Wut der Leidenschaften und der rohen Ausbrüche der Gewalt ein mächtiges Gefühl der Buße« (Neander: »Der heilige Bernhard und sein Zeitalter«). Aufbau, Erstarrung und Überdifferenzierung der Kultur, dann wieder reuemäßige Auflösung und gleichsam Zurücknahme ihrer Bauglieder in einen neuen schöpferischen, alles wiedergebärenden Geist und Lebenswillen: dieses ist nicht nur das Gesetz, nach dem die kleine individuelle Seele atmet, es ist auch das Gesetz des Atems für die große Seele der geschichtlichen Menschheit. Auch auf dem Boden der Geschichte vermißt das tiefere Auge in allen Sphären das Bild einer kontinuierlichen, » fortschreitenden Entwicklung« , — das törichte Bild, welches unser 19. Jahrhundert so lange geäfft und unsern Augen das schönere, allen Fortschritt umschließende erhabenere Gesetz des »Stirb und Werde« verborgen hat.

Getragen von solchem Gefühlsausbruch — dessen Macht und Größe angemessen sein wird der Größe unsrer europäischen Gesamtschuld, die in diesem Kriege mehr offensichtlich und ausgedrückt als erst verschuldet wurde — getragen von der Reue wird auch jene Umkehr erfolgen, welche allein die innere Voraussetzung ist für die Bildung eines neuen außenpolitischen Systems der europäischen Vereinbarung. Keine neue juristische Weisheit und kein noch so guter Wille der Staatsmänner, auch keine »Revolution« und keine »neuen Männer« können diese Sinnesänderung der Völker selbst ersetzen. Auch bei diesem großen Gegenstande ist die Umkehr die der Seele unvermeidliche Form der neuen Vorkehr. Auch hier ist das neue Gefühl der tiefen Entfremdung von einem menschlich-geschichtlichen System, wie es vor diesem Kriege bestand; ist die reuegespornte langsame Aufdeckung der tiefen Wurzeln des Ereignisses in den seelischen Untergründen des überall und bei allen Völkern und Staaten führenden Menschentypus die notwendige Bewußtseinsform, aus der allein sich neue positive Gesinnungen und schließlich neue Baupläne des politischen Daseins gebären können.

Alle jene zahlreichen Ideensysteme, die sich der moderne Mensch ausgeklügelt und angezüchtet hat, um der in ihm wachsenden Schuld zu entkommen: sie alle müssen in diesem Prozesse zerbrochen werden. Denn dieses ist das Grundverhalten des jüngsten Menschentypus, der aus der Erlebnisstruktur des Christentums endgültig herausgetreten schien: Er ließ die Schuld der Zeiten so lange anwachsen, bis er sie nicht mehr zu sühnen, ja zu fühlen und zu denken wagte, und bis ihm, eben hierdurch die von ihm selbst schuldhaft verdunkelte Schuld als bloße objektive Macht von »Verhältnissen«, ökonomischen Verhältnissen zum Beispiel, wie in sie vermummt entgegentritt, — von »Verhältnissen«, denen man sich widerspruchslos zu beugen habe. Reißt euren »Verhältnissen« die sie vermummende Maske herunter: So gewahrt ihr hinter ihnen die Schuld. Die eigene unbereute Schuld oder die seiner Väter tritt dem Modernen von außen gegenüber einem Gespenste gleich, in dem sich seine Seele nicht wiedererkennt. Wie ein neues Ding, wie eine äußre Macht, wie ein »Schicksal«, von außen her stellt sich die Schuld vor seinen beirrten Verstand hin. Ganze wissenschaftliche komplizierte Theorien fordert das Gespenst zu seiner »Erklärung«. Alle historisch-deterministischen Theorien (so zum Beispiel die ökonomische Geschichtsauffassung) sind ja heimlich von diesem Gebundenheitsgefühl gespeist, das nur die natürliche Folge eines seelischen Seins und Verhaltens ist, das den einzigen Weg zu der immer wieder nötigen Befreiung prinzipiell und systematisch ausschlägt: die immer neue Luftzufuhr für den Atem des unter der Last seiner Geschichte erstickenden Selbst, — den Weg der Reue. Selbsttäuschung über die kaum mehr gefühlte, aber darum um so mehr wirksame Schuld, Selbsttäuschung durch grenzenlose Arbeit, welche den puren Prozeß des Arbeitens zu einem absoluten Wert erhöht; oder Selbsttäuschung durch Sturz in die pure Genußwelt sinnlicher Empfindung; ewig provisorisches Leben, das jeden Lebenssinn automatisch bis zum Tode, in die Zukunft, auf das »nächste Mal« verschiebt und sich dann als »Fortschritts«wille und -lehre logisch und moralisch rechtfertigt: das sind einige solcher »Systeme«. —

Wir sagten zu Beginn, daß sich uns in den Regungen des Gewissens eine unsichtbare Ordnung unsrer Seele und unsers Verhältnisses zu ihrem obersten Haupte und Schöpfer ganz von selbst — ohne Deutung unserseits — präsentiere. Auch die Reue nimmt erst dann ihren vollen Sinn an und gewinnt erst dann ihre volle Sprache, wenn sie — hinaus über ihre noch der Ordnung der Natur angehörige Bedeutung der Schuldentlastung — eingefügt erlebt ist in einen metaphysisch-religiösen Weltzusammenhang. Sie nimmt ihren vollen Sinn erst an, wenn sie nicht länger nur das Böse trifft, sondern jenes Böse in den Augen Gottes, das Sünde heißt. In diesem Hinblick auf Gott lernt die Seele die Befriedigung in der Reue und ihr eigenes Neuwerden durch die Reue verstehn als den geheimnisreichen Vorgang »Vergebung der Sünde« und als Eingießung einer neuen Kraft aus dem Zentrum der Dinge. Diese Kraft heißt Gnade. Es mag von sehr vielen Bedingungen abhängen, wie sich die Vorstellungen und die nähern dogmatischen Begriffe über diesen großen Vorgang ausgestalten, und wie sich Reue, Bekenntnis, Buße, Rechtfertigung, Versöhnung und Heiligung im System einer Kirche als objektiver Heilanstalt darstellen. Die einfache Wurzel all dieser Vorstellungen und Institute ist aber immer dieselbe. Sie gründen darin, daß die Reue, obgleich sie als unser persönlicher Akt sich auf unser eigenes schuldbeladenes Herz richtet, unser Herz von selbst transzendiert und über seine Enge hinausspäht, um es aus seiner Ohnmacht in ein geahntes Zentrum der Dinge, in aller Dinge ewige Kraftquelle, zurücktauchen zu machen. Das gehört zum immanenten »Sinn« der vollerlebten Reue selbst.

Wenn es nichts anderes in der Welt gäbe, woraus wir die Idee Gottes schöpfen: die Reue allein könnte uns auf Gottes Dasein aufmerksam machen. Die Reue beginnt mit einer Anklage! Aber vor wem klagen wir uns an? Gehört nicht zum Wesen einer »Anklage« auch wesensnotwendig eine Person, die sie vernimmt und vor der die Anklage stattfindet? — Die Reue ist ferner ein inneres Bekenntnis unsrer Schuld. Aber wem bekennen wir denn, wo doch die Lippe nach außen schweigt und wir allein mit unserer Seele sind? Und wem schuldet sich diese Schuld, die uns drückt? Die Reue endet mit dem klaren Bewußtsein der Schuldaufhebung, der Schuldvernichtung. Aber wer hat die Schuld von uns genommen, wer oder was vermag solches? Die Reue spricht ihr Urteil nach einem als »heilig« empfundenen Gesetz, das wir selbst uns nicht gegeben haben wissen, das unserm Herzen trotzdem einwohnt. Und sie entbindet uns dennoch fast in dem selben Atem von den Folgen dieses Gesetzes für uns und unser Tun! Wo aber ist der Gesetzgeber dieses Gesetzes, und wer anders als sein Gesetzgeber könnte die Folge des Gesetzes für uns hemmen? Die Reue gibt uns eine neue Kraft zum Vorsatz und — in gewissen Fällen — ein neues Herz aus der Asche des alten. Wo aber ist die Kraftquelle und wo ist die Idee für die Konstruktion dieses neuen Herzens und wo die seinen Bau erwirkende Macht?

Aus jeder Teilregung dieses großen moralischen Vorgangs zielt also eine intentionale Bewegung in eine unsichtbare Sphäre hinein, eine Bewegung, die, nur sich selbst überlassen und nicht abgelenkt durch irgendwelche vorschnelle Deutung, uns auch wie von selbst die geheimnisvollen Umrisse eines unendlichen Richters, einer unendlichen Barmherzigkeit und einer unendlichen Macht und Lebensquelle vor den Geist zeichnet. —

Das hier Gesagte ist noch kein spezifisch christlicher Gedanke, geschweige denn ein auf positiver Offenbarung beruhender Lehrgehalt. Es ist nur in jenem Sinne christlich, in dem die Seele selbst, wie Tertullian sagt, von Natur aus eine Christin ist. Und doch haben selbst diese natürlichen Funktionen der Reue erst in der christlichen Kirche ihr volles Licht, ihre volle Bedeutung erhalten. Denn durch ihr System macht uns allein die christliche Lehre verständlich, warum die Reue die zentrale Funktion der Wiedergeburt im Leben des Menschen besitzt.

Es ist furchtbar, daß wir das Leben nur gewinnen kön nen auf dem dunkeln Schmerzensweg der Reue. Aber es ist herrlich, daß es überhaupt einen Weg zum Leben für uns gibt. Und verlieren wir es nicht notwendig durch die sich ansammelnde Schuld?

Wie muß eine Welt beschaffen sein, in der so etwas schon notwendig und doch noch eben möglich ist. In welchem sonderbaren Verhältnis zu ihrem Schöpfer muß sich diese Welt befinden? Und wieso ist es immer und für jeden notwendig? Ich antworte mit einem Gedanken des Kardinals Newman aus seiner »Apologia pro vita sua« : »Entweder gibt es keinen Schöpfer oder das Menschengeschlecht hat sich im jetzigen Zustande von seiner Gegenwart ausgeschlossen. Wenn es einen Gott gibt — und weil es sicher ist, daß es einen gibt — , muß das Menschengeschlecht in eine furchtbare Erbschuld verstrickt sein; es ist nicht mehr im Einklang mit den Absichten des Schöpfers. Das ist eine Tatsache so sicher wie mein eigenes Dasein. So wird mir die Lehre dessen, was die Theologen Erbsünde nennen, ebenso gewiß wie die Existenz der Welt und die Existenz Gottes.«

Der so einfache wie große Gedanke Newmans lautet in unserer Formulierung: Ich besitze eine vollkommen klare und in sich selbst evidente, geistige Anschauung vom Wesen [6] eines möglichen Gottes als dem eines unendlichen Seins und eines Summum Bonum. Ich kann gewißmachen, daß ich diese Idee nicht aus irgendeiner Tatsache und Gestalt der innern oder äußern realen Welt entnommen habe, auch nicht aus ihr irgendwie erschlossen oder sonst von ihr erborgt. Vielmehr gewahre ich die Welt ebenso wie mein Selbst nur unter dem Lichte dieser Idee: in lumine Dei, wie Augustin sagt. Es ist sogar ein Wesensbestandteil dieser vollentfalteten Idee einer geistigen Person, daß nur eine ihr entsprechende Wirklichkeit — wenn es eine solche gibt — dem Menschen allein sich bezeugen kann: dadurch bezeugen kann, daß sie sich offenbart. Also: Wenn es eine dieser Idee entsprechende Realität gibt, kann ich nie in der Lage sein, diese Realität durch spontane Akte meines Bewußtseins festzustellen. Ich weiß evident: niemals könnte ich die Nichtexistenz einer Realität, die dem Wesen der mir so klaren Idee eines persönlichen Gottes genau entspricht, von dem bloßen Schweigen dieser Realität unterscheiden: von ihrer Zurückhaltung. Aber ich glaube, es habe die Realität dieses Wesens im alten Bunde und in vollendetster Form in Christo sich selbst bezeugt — nachdem Spuren von ihr in der, die Geschichte begeistenden, universellen Offenbarung an verschiednen Punkten mit verschiedner Deutlichkeit sichtbar geworden sind. —

Solches sind einige der Grundlagen meines Wissens um Gott. Weiß ich darnach von Gottes Realität, ohne diese Realität aus dem Dasein der Welt erschlossen oder erborgt zu haben, so habe ich in zweiter Linie auch guten Grund zur Annahme, es sei diese Welt nicht absolut selbständig in sich, und sie sei nicht ebenso ursprünglich wie Gott, sondern aus seinen Schöpferhänden hervorgegangen [7] . Nun aber, und nachdem ich dies festgestellt, fällt mein Blick auf diese Welt, so wie sie ist, auf den Menschen, so wie er sich in seinem gesamten Treiben in der mir zugänglichen Geschichte wirklich darstellt. Können Welt und Mensch nun ebenso wie sie sind, aus den Schöpferhänden Gottes hervorgegangen sein? Alles in mir spricht: Nein! Damit aber ist die Idee irgendeiner Form des Abfalls, der Verschuldung und der Erbsünde, von selbst gegeben als die einzige Erklärung des Unterschiedes einer von dem absolut vollkommenen Gott geschaffenen Welt und derjenigen Welt, wie sie mir als wirklich bekannt ist.

Erst in diesem Zusammenhang gewinnt, wie so vieles andre, auch die Reue ihren vollen Sinn — wenigstens wird sie so zu jenem dauernd Notwendigen, als das wir sie früher ansahn.

Am Beginn dieser Weltgeschichte steht eine Schuld! Wie sollte es darum eine andre Form der ewigen Regeneration geben als die Form der Reue?

Über die christliche Kontritionslehre und über die Gestaltungen, die diese Lehre in den christlichen Kirchen und Sekten angenommen hat, habe ich hier kein Urteil gefällt. Denn die Absicht war, zu zeigen, wie weit allein philosophische Besinnung hier führen kann. Vergleiche ich nun aber mit diesen Lehren das Gewonnene: so finde ich die tiefste Erkenntnis von Bedeutung und Sinn des Reueaktes im Christentum und innerhalb seiner wieder in der katholischen Kirche. Zu dem Eigentümlichsten der christlichen Reueauffassung scheinen mir — bei Absehung von allen Einzelheiten der Rechtfertigungslehren — zwei Dinge zu gehören: Erstens die, zunächst sehr paradoxe Vorstellung, daß der Rhythmus von Verschuldung und Reue nicht nur notwendig zum Leben des gefallenen Menschen gehöre, sondern daß die vollkommene Reue noch über den Stand der Schuldlosigkeit hinaufführe in einen höheren Daseinsstand, der ohne die vorhergehende Sünde und folgende Reue unerreichbar gewesen wäre. Dieser Gedanke drückt sich makrokosmisch gleichsam aus in der Lehre, daß die Erlösungstat Christi nicht nur die Sünde Adams getilgt, sondern den Menschen darüber hinaus in eine, fortan tiefere und heiligere Gemeinschaft mit Gott, als sie Adam besaß, versetzt habe — obzwar der im Glauben und der Nachfolge Erlöste die volle Integrität Adams nicht wieder erhält und die ungeordnete Begierde, die »Konkupiszenz«, bestehn bleibt. Und wieder gibt sich derselbe Rhythmus von Fall und Aufstieg über den Urstand hinaus gleichsam mikrokosmisch kund in dem evangelischen Satze: daß im Himmel mehr Freude ist über einen reuigen Sünder als über tausend Gerechte.

Besonders der erste dieser beiden Gedanken gibt dem Falle der Menschheit in Adam und ihrer Erhebung in die Gottesgemeinschaft durch die Menschwerdung Christi erst volles Licht und letzte Erhabenheit. Früh schon fühlten die großen christlichenTheologen, daß eine Auffassung, die das Wesen und den Grund der Inkarnation ausschließlich in die mitleidige Barmherzigkeit Gottes mit dem gefallenen Menschen und eine bloße Heilung und Wiederherstellung des Menschen verlegte, die Gott durch den Fall und die Erbsünde gleichsam abgenötigt gewesen wäre, der Erhabenheit der Inkarnation nicht gerecht werde. Gott hätte den gefallenen Menschen auch auf andere Weise zu heilen vermocht und ihm seine Sünde vergeben können als dadurch, daß er — der Unendliche — selbst Mensch und Fleisch ward. Und andererseits hätte die Inkarnation — nach allgemeiner Lehre der Theologie — : auch ohne Sündenfall und Erbsünde erfolgen können. Die Inkarnation bleibt also eine freie Tat Gottes. Zwischen einer bloßen Rückerhebung des gefallenen Menschen auf seine natürliche Höhe (vor dem Fall) und der unendlichen Erhabenheit der Menschwerdung des absoluten Herrn der Dinge gibt es keine sinnvolle Proportion. Nur darum darf auch die Kirche angesichts des Falles ihr »felix culpa« singen, weil die Erhebung des Menschen und der Welt durch den substanziellen Eingang Gottes in ein Glied der Menschheit den Menschen auf eine unvergleichlich erhabenere Höhe hinaufhebt als diejenige ist, auf der er sich im Urstande befand. »Da die Fülle des menschlichen Geschlechts — sagt der hl. Leo im Einklang mit vielen Anderen — in den ersten Menschen gefallen war, so wollte der barmherzige Gott der nach seinem Bilde geschaffenen Kreatur durch seinen eingeborenen Sohn Jesus Christus so zu Hilfe kommen, daß nicht außerhalb der Natur die Wiederherstellung derselben läge und daß über der Würde des eigenen Ursprungs der zweite Zustand hinausginge. Glücklich (die Natur), wenn sie von dem nicht abfiel, was Gott gemacht hatte; glücklicher, wenn sie in dem bleibt, was er wiederhergestellt. Es war etwas Großes, von Christus die Gestalt empfangen zu haben ; aber etwas Größeres ist es, in Christus seine Substanz zu haben.« (Leo d. Gr., Serm. 2 de ressurectione.) Darum muß in der Tiefe des ewigen Ratschlusses Gottes seine Menschwerdung auf den ewig vorhergesehenen Fall des Menschen zwar hingeordnet gedacht werden, zugleich aber auch angenommen werden, daß Gott die Zulassung der frei vom Menschen im Falle übernommenen Sündenschuld auch in Hinsicht auf die gleichfalls im ewigen Ratschlüsse Gottes beschlossene Menschwerdung, beschlossen hat. Auch die Idee, daß Gott durch die Inkarnation nicht nur ein Bedürfnis des Menschen erfülle und einer selbstverschuldeten Not des Menschen zu Hilfe komme, daß er vielmehr in dieser Tat aus unendlicher, die immanente Zeugung des Sohnes fortsetzender Liebe an erster Stelle sich selbst verherrliche und auch den Menschen — mit diesem ihrem edelsten Gliede der Welt aber auch die Welt — in diese seine Verherrlichung aufnehme, gewinnt erst durch diesen Gedankenzusammenhang seinen vollen Sinn. — Doch gehen diese Gedanken bereits über unser Thema hinaus. —

Das zweite, hiervon unabtrennbare Moment ist das neue Verhältnis, in das jetzt Reue und Liebe gesetzt sind. Die »vollkommene« Reue erscheint in doppeltem Sinne getragen von der Liebe Gottes. Einmal dadurch, daß diese Liebe, stets an die menschliche Seele anpochend, gleichsam das Wertbild eines idealen Seins vor dem Menschen herträgt und den Menschen erst im Verhältnis zu diesem Bilde die Niedrigkeit und Verstricktheit seines wirklichen Zustandes voll gewahren läßt. Sodann dadurch, daß der Mensch, nach dem spontanen Vollzug der Reue und im Rückblick von der mählich gespürten Vergebung und Heiligung her, die Kraft zum Vollzug des Reueaktes als ein Liebes- und Gnadengeschenk Gottes erlebt — und dies im gleichen Maße, wie die in dem Reuevorgang schon zu Beginn angelegte menschliche Liebesregung zu Gott allmählich die volle Liebesfähigkeit gegenüber Gott wiederherstellt und durch die Aufhebung der von der Schuld gesetzten Schranke und Gottesferne die Versöhnung und Wiedervereinigung mit dem Zentrum der Dinge bewirkt.

Zuerst erschien uns diese Liebesregung als unsre Liebe. Dann sahn wir, daß sie auch schon Gegenliebe war. —

Anmerkungen:

[1] Mit Recht nimmt daher die Kirchenlehre an, daß die schuldlöschende »vollkommene« Reue die Beicht-, also Bekenntnisbereitschaft, von selber so aus sich heraustreibe, daß, wo sie fehlte, auch die Reue nicht als »vollkommen« zu erachten wäre.

[2] Anmerkung PER: Was Scheler hier über die Furcht sagt, kann man gelten lassen, wenn man sie als reine Leidenschaft, passio, auffasst, die als solche die Besinnung, das “restlose Alleinsein mit sich und mit seiner Tat”, hindert. Das gilt aber gerade nicht für die “heilsame Erschütterung”, von der das Konzil von Trient im Zusammenhang mit der “Furchtreue” spricht und die gerade Frucht einer Erkenntnis und Besinnung ist. Das Tridentinum beschreibt die Vorbereitung auf die Rechtfertigung mit folgenden Worten: “Vorbereitet aber werden sie [die Sünder] zu dieser Gerechtigkeit so: Durch die göttliche Gnade erweckt und unterstützt, nehmen die Menschen den Glauben aufgrund des Hörens (vgl. Röm 10,17) an wenden sich Gott aus freien Stücken zu, indem sie glaubend für wahr halten, was von Gott geoffenbart und verheißen ist, vor allem, dass der Gottlose von Gott durch Gnade gerechtfertigt wird, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist (Röm 3,24). Dann erkennen sie, dass sie Sünder sind, und sich vor Furcht vor der göttlichen Gerechtigkeit, durch die sie heilsam erschüttert sind, kehren sie sich zur Besinnung auf die Barmherzigkeit Gottes hin und richten sich in Hoffnung auf im Vertrauen darauf, dass Gott ihnen um Christi willen gnädig sein werde. Sie beginnen ihn als Quelle aller Gerechtigkeit zu lieben und wenden sich deshalb angemessen mit Hass und Abscheu von den Sünden ab, das heißt durch jene Buße, die man vor der Taufe tun muss (vgl. Apg 2,38). Schließlich nehmen sie sich vor, die Taufe zu empfangen, ein neues Leben zu beginnen und die göttlichen Gebote zu beachten.”

[3] Siehe mein Buch über Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle.

[4] Vergl. meine Analyse der Sühneforderung im Buche „Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik".

[5] Vgl. meine strenge Ableitung des Solidaritätsprinzips in „Formalismus in der Ethik etc." II. Teil.

[6] Es ist hier nicht die Rede vom offenbarungsmäßigen Wesen Gottes an sich (unabhängig von Gottes Weltbezogenheit), sondern nur vom Wesensinhalte der natürlichen Gottesidee.

[7] Die zeitliche Schöpfung bleibt hier dahingestellt.


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