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Wirklichkeit als Anthropomorphismus

Von Robert Spaemann

Als wir Kinder waren, gab es einen Augenblick, wo wir, wenn uns eine Geschichte erzählt wurde, die Frage stellten: "War das mal wirklich?" Wir erwarteten auf diese Frage eine schlichte Antwort, also nicht eine Antwort, die den Umfang des Begriffs "wirklich" so lange dehnte, bis auch Märchen und Träume darunter subsumiert werden konnten. Träume waren ja gerade das, was wir mit unserer kindlichen Frage ausschließen wollten. Wer nach Wirklichkeit fragt, will immer etwas ausschließen. Wirklichkeit ist ja nicht ein Merkmal, das zu dem, was es gibt, noch etwas hinzufügt. Das Wirkliche unterscheidet sich vom Unwirklichen, und wenn wir wissen wollen, was jemand meint, wenn er nach dem fragt, was wirklich ist, müssen wir wissen, was er als unwirklich ausschließen will. Das Ausgeschlossene kann viele Namen haben: Traum, Fiktion, Lüge, Schein, Einbildung, Konstrukt, virtuelle Realität usw. Die Unterscheidung von Sein und Schein ist die erste und fundamentalste Unterscheidung, mit der die Philosophie beginnt.. Allerdings erhob sich auch schon in den Anfängen der Philosophie, bei den Eleaten, Widerspruch gegen diese Unterscheidung. Deren Argument war einfach: Das Nicht-Wirkliche, also das Nicht-Seiende ist nicht, per definitionem. Es gibt nicht das, was es nicht gibt. Der Traum ist ebenso eine Wirklichkeit wie das Wachen, und das Geträumte ebenso wie wie das im Wachen Erlebte. Was immer die virtuelle Realität von der nichtvirtuellen unterscheiden mag, sie heißt schließlich ebenso wie diese "Realität".

Ja, haben wir denn überhaupt etwas anderes als virtuelle Realität? Mit dieser Verblüffungsfrage werden wir heute immer häufiger konfrontiert. Wenn der Gegensatz von Schein und Sein verschwindet, ist es gleichgültig, ob wir sagen, alles sei wirklich oder alles sei Schein. "Esse est percipi", sagte Berkeley. Und David Hume: "We never advance one step beyond ourselves". Wenn wir etwas erleben, dann ist es eben etwas von uns Erlebtes. Es spielt sich in uns ab. Falls es irgendwie von außen verursacht ist, können wir das nicht wissen. Ja sogar der Gedanke eines Außen ist wiederum nur ein Gedanke, der seine Metaphorik uns bekannten räumlichen Verhältnissen entleiht. Und auch der Gedanke eines Anderen unserer selbst, der Gedanke von etwas, was jenseits unseres Denkens ist, bleibt doch unser Gedanke. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts hat diese Reflexion bis zum Exzess durchgespielt.

Die Entwicklung der Technik am Ende des 20. Jahrhunderts vollzieht diese Reflexion in der Praxis nach. Technische Simulation verdrängt nicht mehr nur die Wirklichkeit, sie gibt vor, deren Wesen zu enthüllen. Die kybernetischen Konstrukte ahmen nicht mehr nur das Lebendige nach, sie beanspruchen uns zu erklären, was Leben ist. Es ist nichts als diese Simulation. Onanie, Cybersex ist nicht mehr bloß Ersatzbefriedigung. Es präsentiert sich als die Sache selbst. We never advance one step beyond ourselves. Zwar sind wir so konstruiert, dass wir den Anderen zu unserem Glück brauchen. Aber wie für jede funktionale Interpretation, so gilt auch für diese: sie eröffnet den Spielraum für funktionale Äquivalente. Eine Simulation des Anderen tut es auch. Wenn sie perfekt ist, ist sie der Andere.

Ein Kriterium für das Wirkliche?

Aber ist sie es wirklich? Gibt es kein Kriterium, um das Wirkliche vom Unwirklichen zu unterscheiden? Gibt es keinen Unterschied? Doch, natürlich gibt es einen Unterschied, und es ist sogar der wichtigste aller Unterschiede. Aber ein Kriterium? Nein, das gibt es nicht. Denn Wirklichkeit ist, wie gesagt, keine Eigenschaft. Max Scheler meinte, das Wirkliche mache sich für uns durch Widerständigkeit bemerkbar. Wirklichkeitserfahrung sei Widerstandserfahrung. Aber das stimmt nicht. Auch im Traum erfahren wir Widerstand, Bedrohung, Überwältigung. Und es gibt Träume, in denen wir das reflexe Bewusstsein haben, nicht zu träumen, ja wo wir uns durch empirische Experimente davon überzeugen, dass wir nicht träumen. Und darin wachen wir auf, und es war doch ein Traum. Manchmal ist sogar das Aufwachen geträumt. Wir träumen, dass wir geträumt haben und nun aufwachen. Kein Kriterium, sondern nur das nochmalige Aufwachen gibt uns die kriteriumslose Gewissheit, jetzt wirklich wach zu sein. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wir im Traum die gleiche Gewissheit hatten. Der Zweifel, den wir daraus ableiten, bleibt rein theoretisch. Das heißt, er ist gar kein Zweifel, sondern nur die Feststellung, dass unsere Gewissheit sich nicht auf ein Kriterium stützt.

Übrigens gibt es auch das Umgekehrte, nämlich den Zweifel an der Wirklichkeit des Geträumten im Traum selbst. Als Fünfjähriger wurde ich im Traum von einer Hexe verfolgt. Sie rannte auf einer Dorfstraße hinter mir her. Ich rannte um mein Leben. Der Abstand verringerte sich ständig. Plötzlich fiel mir ein: Meine Mutter hatte mir gesagt: es gibt keine Hexen. Meine Mutter sagte immer die Wahrheit. So glaubte ich ihr mehr als dem Augenschein, und meine Schlussfolgerung war: die Hexe muss geträumt sein. Es kann sich nun nur darum handeln aufzuwachen, ehe die Hexe, deren Atem ich schon spüre, mich packt. Im Vertrauen auf das Wort meiner Mutter warf ich mich auf die Straße, wälzte mich hin und her und wachte auf. Es war kein empirisches Kriterium, aufgrund dessen die Hexe unwirklich war. Es war ein Glaubensakt, der mich das Risiko eingehen ließ, sie für unwirklich zu halten.

Die wirkliche Welt als gemeinsame Welt

Aber was heißt hier: wirklich? Wann ist etwas nicht geträumt? Heraklit sagte: "Im Traum hat jeder seine eigene Welt. Im Wachen haben wir eine einzige und gemeinsame Welt". Wenn ich mit einem Freund eine Bergwanderung mache und unterwegs bei einem Hüttenwirt einkehre, und es stellt sich später im Gespräch mit dem Freund heraus, dass er mit mir eine solche Wanderung nicht gemacht hat, und im Gespräch mit dem Hüttenwirt, dass bei ihm niemand eingekehrt ist, der mir oder meinem Freund ähnlich sah, dann muss ich die Wanderung wohl geträumt haben.

Dass die wirkliche Welt die gemeinsame Welt sei, kann missverstanden werden. Es kann so verstanden werden, als sei nur dasjenige wirklich, was von allen als wirklich erlebt und anerkannt wird. Das kann nicht sein. Denn es gibt bekanntlich Menschen, die vor der Wirklichkeit ihre Augen verschließen. Und es gibt, zum Beispiel in der Astrophysik, kontroverse Auffassungen über das, was es gibt und nicht gibt. Irgendwann entsteht vielleicht aufgrund neuer Beweise ein Konsens. Aber wir würden doch nicht sagen, dass die Wirklichkeit erst mit dem Konsens über sie entsteht. Nicht faktischer Konsens, sondern universelle Konsensfähigkeit ist charakteristisch für wahre Aussagen über das Wirkliche. Und wir halten etwas auch nicht deshalb für wahr, weil wir es für konsensfähig halten, sondern wir halten es für konsensfähig weil es wahr ist, also weil zum Beispiel ein Satz einer Wirklichkeit entspricht. Von neuem entgleitet uns also, was wir mit wirklich meinen bzw. was wir damit ausschließen wollen.

Ausschließen wollen wir zunächst den Traum und die Einbildung, also jene Seinsweise einer Sache, die sich nur endogen, also aus einer subjektiven Veranlagung dessen erklären lässt, der die Sache oder den Sachverhalt vorstellt, also dasjenige, dessen Sein in seinem Objektsein aufgeht. Bloße Objekte sind auch dann, wenn über sie Konsens besteht, nicht wirklich.

Stellen wir uns einen Menschen vor, der auf dem Sterbebett liegt. Er ist unfähig, noch irgendwelche Äußerungen von sich zu geben, die auf das schließen lassen, was in ihm vorgeht. Um ihn herum steht ein Ärztekonsortium. Aufgrund medizinischer Messdaten sind sich die Ärzte in der Überzeugung einig, dass der Patient keine Schmerzen hat und dass er nicht mehr hört, was um ihn herum gesprochen wird. Der Patient hat indessen wohl Schmerzen und er hört auch, was die Ärzte über ihn sagen. Er weiß also, dass sie sich irren, aber er kann das nicht äußern, ehe er stirbt. Nehmen wir an, der Fall dieses Patienten beschäftige weiterhin die medizinische Wissenschaft. Die Daten werden mehrfach neu analysiert, aber am Ende kommt die scientific community zu dem Schluss, der Mensch sei tatsächlich nicht mehr imstande gewesen zu hören und Schmerzen zu empfinden zu dem Zeitpunkt, als das Konsortium sich mit ihm befasste. Unter den lebenden Menschen und insbesondere den Wissenschaftlern herrscht also einstimmiger Konsens. Aber es ist ein Konsens über das Falsche. Denn was wirklich stattfand, wusste allein derjenige, der jetzt nicht mehr lebt. Es gibt also die Wahrheit, aber niemand weiß sie mehr. Die Tatsache, dass nur ich meine eigenen Schmerzen erlebe, bedeutet nicht, dass es nur für mich wahr ist, dass ich Schmerzen habe. Wenn jemand sagen würde: "Ich erlebe dich anders, als du dich erlebst. Für mich hast du keine Schmerzen", so würde ich ihm antworten: "Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie du oder sonst jemand mich erlebt oder welche wissenschaftlichen Feststellungen jemand über mich trifft. Die Wahrheit über meine Schmerzen kann nur ich wissen. Aber diese Wahrheit ist deshalb nicht eine Wahrheit nur für mich, sondern für jeden". Man könnte einwenden, dass diese Situation, wo ein seiner selbst bewusstes Subjekt sich als Gegenstand des Wissens Anderer weiß, ein Grenz- und Ausnahmefall ist, der nicht als Modell für unser Verhältnis zur Wirklichkeit dienen kann. Ich möchte die Gegenthese vertreten: Dieser Fall ist das Paradigma unseres Wirklichkeitsverhältnisses und unseres normalen Begriffs von Wahrheit.

Subjekte und Objekte

Die Rede von Subjekten und Objekten als zwei prinzipiell entgegengesetzten Seinsbereichen geht an der Wirklichkeit vorbei. Genauer gesagt: Diese Sicht bringt so etwas wie Wirklichkeit überhaupt zum Verschwinden. Objekte, die nur Objekte sind, haben nur subjektives Sein. Es macht keinen Unterschied, ob sie geträumt oder dem Wachbewusstsein gegeben sind, da sie ja nichts jenseits ihres Gegebenseins sind. Aber können wir umgekehrt so etwas wie reine Subjektivität wirklich nennen? Das cartesische Cogito ist inhaltsleer weil es nur instantan ist. Die absolute Selbstgewissheit des Bewusstseins ist nur ein punktuelles, ausdehnungsloses "Ich denke jetzt". Und schon dies kann nicht ausgesprochen werden, denn wenn es ausgesprochen wird, ist bereits Zeit vergangen. Ich müsste also sagen: "ich habe gedacht". Aber diese Erinnerung ist nicht mehr unmittelbares Selbstbewusstsein, sondern bereits eine Selbstvergegenständlichung. Und diese Vergegenständlichung der eigenen Subjektivität in der Erinnerung ist die Voraussetzung dafür, dass Subjekte einander objektiv werden können, und zwar als Subjekte. Nicht das punktuelle, inhaltslose, instantane Cogito ist wirklich. Wirklich sind Subjekte nur als zeitübergreifende objektive Subjekte, das heißt als Personen, als Personen mit einer Biographie, die sich konstituiert sowohl aus der eigenen Erinnerung als auch aus der Erinnerung anderer. Personen sind nicht instantane Subjektivitätspunkte. Das instantane Selbstbewusstsein ist vielmehr erst das Resultat der Reflexion eines Subjektes, das Resultat einer Rückkehr aus den vielen erlebten Inhalten zu sich selbst. Primär ist, wie Leibniz bemerkte, nicht das Cogito des Descartes, sondern primär ist das Erlebnis: "varia a me cogitantur".

Wie kommen wir dazu, dem, worüber wir sprechen, ein Sein zuzusprechen, eine Wirklichkeit jenseits dessen, was das Begegnende für uns ist und als was wir es erfahren? Gibt es dafür noch einmal eine Basis in der Erfahrung selbst? Es gibt eine solche Basis, und das ist die Kommunikation von Personen. Personen geben einander zu verstehen, dass sie selbst noch etwas jenseits dessen sind, als was sie sich zeigen. Der Schmerz des Anderen ist nicht mein Schmerz. Zu einer absoluten Gewissheit aber wird uns diese Differenz dort, wo wir selbst diejenigen sind, zu denen und über die gesprochen wird. Mir scheint, dass die Pluralität von Personen mindestens drei Personen erreichen muss, damit die Subjektivität objektiv, das heißt Person wird. Im Gespräch zu dritt kann jeder jederzeit überwechseln vom Partner zum Gegenstand des Gesprächs. Und er kann selbst wieder Stellung nehmen zu dem, was die beiden anderen über ihn gesagt haben. Jeder aber ist sich bewusst, dass er selbst etwas jenseits dessen ist, was die beiden anderen über ihn meinen. Ich mag mir einbilden, der Andere sei nur mein Traum. Ich kann von mir nicht denken, ich sei nur der Traum eines Anderen. Dieses Bewusstsein liegt jeder Anerkennung von Wirklichkeit jenseits der Gegenständlichkeit zugrunde. Es lag auch dem kantischen Begriff eines Dinges an sich zugrunde, der in der Kritik der reinen Vernunft zwar leer bleibt, in der Kritik der praktischen Vernunft aber einen konkreten Inhalt gewinnt, und der kann kein anderer sein als: personale Freiheit. Dieser Schritt von unserer Selbsterfahrung zur Wirklichkeitserfahrung überhaupt ist uns am unmittelbarsten verständlich, wo es sich um höher entwickelte Tiere mit zentralem Nervensystem handelt. Wir billigen diesen Tieren Subjektivität zu. Darum reden Menschen zu Tieren, und darum gibt es Tierschutzgesetze, die der rücksichtslosen Objektivierung von Tieren Grenzen setzen. Wir betrachten sie als "wirklich", wir billigen ihnen "Sein" jenseits ihres Objektseins zu. Wir beanspruchen nicht, wissen zu können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Aber wir setzen voraus, dass es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein, während es nicht irgendwie ist, ein Auto zu sein. Das heißt, wir erkennen der Fledermaus "Sein" zu. Dieses Sein, das sie mit uns gemeinsam hat, heißt "Leben". "Leben", schreibt Aristoteles, "ist das Sein der Lebewesen". Leben, wie wir es selbst erfahren, ist nicht ein bestimmter komplexer Zustand von Materie. Ich erfahre mich nicht als Zustand von etwas, das nicht Mensch ist. Der Mensch ist, um mich wieder aristotelisch auszudrücken, lebendige Substanz, also eigentliche und primäre Wirklichkeit, von der vielerlei Zustände existieren können, die aber selbst nicht Zustand, sondern basaler Träger und Inbegriff von Zuständen ist. Und so auch, nehmen wir an, die Fledermaus. Wir billigen ihr Leben, also Selbstsein zu.

Sein im Sinne von Wirklichkeit ist nicht ein empirisches Datum. Es zwingt sich nicht auf. Es gibt kein zwingendes Kriterium für die Wirklichkeit von Subjektivität. Wohl gibt es gute Gründe dafür, solche anzunehmen, das heißt, nicht uns allein für lebendig zu halten, und es gibt deshalb eine moralische Missbilligung derer, die die Anerkennung von Lebendigem als lebendig verweigern. Ontologie und Ethik sind nicht zu trennen. Liebe und Gerechtigkeit sind nicht möglich unter der Annahme, dass die anderen Menschen und die anderen Lebewesen nur meine Träume sind. Menschlichkeit und Freude im Umgang mit Tieren ist nicht möglich, wenn Tiere nicht leben und erleben, das heißt wenn es nicht irgendwie ist, ein Tier dieser oder jener Art zu sein.

Anthropomorphismus und Anthropozentrismus

Der bekannte Einwand lautet, man dürfe außermenschliches Leben nicht anthropomorph betrachten. Meine Antwort darauf lautet: wir müssen es anthropomorph betrachten, wenn wir ihm gerecht werden wollen. Nur im Ausgang von bewusstem Leben, das wir selbst sind, können wir adäquat sprechen von nichtbewusstem Leben, von außermenschlichem Leben. Wir haben zu diesem Leben keinen direkten Zugang. Wir können es nur wie bewusstes Leben abzüglich des Bewusstseins betrachten. Descartes meinte: abzüglich des Bewusstseins ist Leben nichts. Die Cartesianer quälten Tiere und hielten deren Schmerzäußerungen für mechanische Reaktionen. Aber das entspricht nicht unserer Erfahrung. Wenn wir uns dessen bewusst werden, dass wir in heiterer Stimmung sind, dass wir Hunger oder leichte Kopfschmerzen haben, erleben wir diese Stimmung, diesen Hunger oder diese Kopfschmerzen als etwas, das wir schon hatten, ehe es uns zu Bewusstsein kam. Gefragt, was denn der Hunger war, ehe er uns bewusst wurde, können wir natürlich nicht antworten. Denn nur der bewusste Hunger ist uns bewusst. Und doch ist es Teil dieses Bewusstseins, dass der Hunger schon vorher da war und dass er durch das Bewusstwerden erst in ein neues Stadium eintritt. Vorher war er etwas ähnliches wie der bewusste Hunger, also der bewusste Hunger abzüglich des Bewusstseins. Und so ist es richtig und die einzige Möglichkeit, über wirkliches, nicht menschliches, nicht bewusstes Leben anthropomorph zu sprechen und sich dieses Anthropomorphismus zugleich bewusst zu sein.

Die Alternative zu dem so geschmähten Anthropomorphismus in der Biologie ist der Anthropozentrismus. Die moderne Welt ist wie keine zuvor anthropozentrisch. Auch das neue Umweltbewusstsein ändert nichts daran. Im Gegenteil: indem alles außermenschliche Seiende als Umwelt definiert wird, wird es radikal auf den Menschen bezogen. Artenschutz hat mit Umweltbewusstsein etwas zu tun, weil die natürlichen Arten zum Reichtum unserer Welt gehören. Tierschutz hat damit im Grunde nichts zu tun, weil es in ihm um die Tiere selbst geht. Die moderne Wissenschaft ist anthropozentrisch. Sie fragt nicht nach dem, was wirklich ist und was deshalb den Charakter des Mitseins mit uns hat, sondern sie fragt danach, wie es uns als Objekt erscheint und wie es von uns manipulierbar ist. Eine Sache erkennen heißt, so schrieb schon einer der Väter des anthropozentrischen Denkens der neuzeitlichen Wissenschaft, Thomas Hobbes, "to know what we can do with it when we have it". Um zu wissen, was ich mit einer Sache machen kann, muss ich nicht wissen, was sie wirklich als sie selbst ist. Ich kann deshalb auf den Anthropomorphismus zugunsten der Anthropozentrik verzichten. Die Dinge, insofern sie pure Objekte sind, stehen dem Subjekt gegenüber, sie haben nichts mit ihm gemeinsam. Die Wirklichkeit als sie selbst verstehen wollen, heißt, sie unter dem Aspekt größerer oder geringerer Ähnlichkeit mit uns zu betrachten. Die objektivierende Wissenschaft kennt am besten das uns Entfernteste, das Verhalten der einfachsten Elemente der unbelebten Materie. Und sie versucht, das uns Nächste und uns selbst als komplexe Kombination aus diesen Elementen zu verstehen. Je komplexer, desto schwieriger ist dieses Verstehen. Wie aus einer solchen Kombination sich ein Streichquartett von Beethoven oder die Formeln der Relativitätstheorie ergeben haben sollen, liegt in undurchdringlichem Dunkel. Wenn wir nicht objektive Bestände aufnehmen, sondern Wirklichkeit verstehen wollen, liegt die Sache genau umgekehrt: Wir verstehen das Streichquartett oder die Relativitätstheorie besser als wie es ist, ein Bakterium zu sein, falls es überhaupt irgendwie ist. Wenn nicht, dann können wir hier gar nichts mehr verstehen, sondern nur noch objektive Daten registrieren.

Denn auch für die uns ferne unbelebte materielle Welt gilt: sie als wirklich betrachten, ihr so etwas wie Selbstsein zuerkennen heißt, sie unter dem Aspekt der Ähnlichkeit mit uns, also anthropomorph betrachten, nicht als Objekt, sondern als Mitsein. Der Versuch, darauf zu verzichten, hat eine lange Geschichte. Sie beginnt mit dem programmatischen Verzicht auf jede Teleologie in der Naturbetrachtung, also auf jeden Gedanken einer Zielgerichtetheit natürlicher Prozesse. Bacon erklärte, solche Betrachtungen seien unfruchtbar wie gottgeweihte Jungfrauen. Zielgerichtetheit setzt, so heißt es von Johannes Buridan bis zu Wolfgang Stegmüller, Bewusstsein voraus. Unbewusste Tendenzen soll es nicht geben können. Was übrig blieb, war ungerichtete Kausalität, Wirkursächlichkeit. Aber auch diese enthüllte sich als Anthropomorphismus. Was eine Ursache ist wissen wir primär aus der Erfahrung unseres eigenen Handelns. Wir bewegen unseren Arm, und die Kugel rollt. Bertrand Russell forderte deshalb, auch den Begriff der Ursache fallen zu lassen. Was es gibt, sind Bewegungsgesetze der Natur. Aber schließlich zeigte sich, dass auch Bewegung ein anthropomorpher Begriff ist. Der neuzeitllichen Physik ist es gelungen, Bewegung mit Hilfe der Infinitesimalrechnung zu vergegenständlichen. Aber das geschah um den Preis, dass sie als Bewegung verschwindet und aufgelöst wird in eine unendliche Folge stationärer Zustände. Leibniz, einer der beiden Erfinder der Infinitesimalrechnung, wusste das übrigens genau. Er wusste, dass die physikalische Vergegenständlichung der Bewegung nur ein Konstrukt zum Gegenstand hat. Wirkliche Bewegung kann nur verstanden werden, wenn wir ihr einen Conatus, ein Streben zugrunde legen. Aber was Streben heißt, wissen wir wieder nur aus unserer Selbsterfahrung. Wenn wir diese nicht ins Spiel bringen, kommen wir nicht bis zur Wirklichkeit der Bewegung.

Das Verschwinden der Person

Und dasselbe gilt schließlich für das Bewegte. Bewegt sind Körper, Dinge als mit sich über eine gewisse Zeit hin identische Einheiten. Nietzsche war wohl der erste, der darauf hinwies, dass auch die Idee solcher Einheiten, also die Idee von Dingen, ein Anthropomorphismus ist. Wir sind es, die sich als Einheiten erleben, als Einheiten, die über die Zeit hinweg ihre Identität bewahren. Wir erleben uns als Subjekte des Wollens und Handelns, die für ihre Handlungen Verantwortung tragen. Kinder schlagen den Tisch, wenn sie sich an ihm gestoßen haben. Aber wir tun dies in gewisser Weise alle, solange wir überhaupt von Dingen reden. Der Gedanke des Seins von Etwas ist unzutrennlich von dem Gedanken der Identität dessen, was ist.

Und genau dieser Gedanke ist ein fundamentaler Anthropomorphismus. Wenn wir ihn allerdings einmal mit Bezug auf die Dinge verabschiedet haben, dann müssen wir ihn schließlich auch mit Bezug auf uns selbst verabschieden. Der Abschied vom Anthropomorphismus ist am Ende ein Abschied vom Menschen selbst, das heißt von der menschlichen Betrachtung des Menschen. Der Mensch wird sich selbst zum Anthropomorphismus. Er ist das letzte Ding, das sich auflöst. Das Resultat ist eine subjektlose, gleichgültige Welt von Gegenständen, die niemandes Gegenstände mehr sind. Der Gedanke der Wirklichkeit verschwindet. Nietzsche hat Humes Überzeugung zur Vollendung gebracht: We never do one step beyond ourselves. Nur zeigt sich, dass der Gedanke des Selbst seinerseits schon einen Schritt über das Selbst hinaus voraussetzt, also Selbsttranszendenz. Das hat übrigens Hume auch schon gesehen. Er erklärt offen, dass er sich nicht zu den Menschen rechnen könne, die sich eines Ich erfreuen. Und zwar deshalb nicht, weil Selbstsein kein Zustand, keine empirische Eigenschaft, sondern dasjenige ist, oder besser derjenige bzw. diejenige, die sich in bestimmten empirischen Zuständen befinden. Für den Empirismus gibt es aber nur diese Zustände. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die Befürworter des Selbstmords, des assistierten Selbstmords und der Euthanasie in der Regel aus dem Bereich des Empirismus kommen. Für sie gibt es nur Zustände, wünschenswerte und nicht wünschenswerte. Die nicht wünschenswerten, also Zustände des Leidens, sind zu beseitigen, und wenn das nicht anders möglich ist, dann durch die Beseitigung dessen, der leidet. Denn der Leidende hat nicht eigentlich eine Wirklichkeit, ein Sein, das etwas anderes wäre als die Gesamtheit der Zustände, in denen er sich befindet. Er ist nicht eigentlich jemand, der leidet, sondern er ist Leiden, das dahin tendiert, nicht zu sein. Und der Zustandskomplex tendiert kategorisch dahin, wenn das Leiden nicht aufgewogen wird durch Annehmlichkeiten. In diesem Fall ist es sinnvoll, den ganzen Zustandskomplex zu beseitigen. Täuschen wir uns nicht. Die Konsequenzen dieser Auffassung mögen noch auf instinktive Abwehrreaktionen stoßen. Die Auffassung selbst findet inzwischen breite Akzeptanz. Aber wer sich selber nicht wirklich ist, dem ist nichts wirklich. Es gibt für ihn nur Zustände, nicht Sein. Dem entspricht eine Gesellschaft, wie sie der amerikanische Neopragmatist Richard Rorty propagiert, eine Gesellschaft, in der nichts wichtiger ist als Lust und Schmerz. Tatsächlich sind Lust und Schmerz Erscheinungsweisen der Wirklichkeit des Lebens, das sich verwirklicht und steigert oder das bedroht und gefährdet ist. In diesen Erscheinungsweisen erlebt sich Leben. Platon hat ausführlich die Dekadenz einer Zivilisation analysiert, in der diese Erscheinungsweisen von dem abgekoppelt werden, was in ihnen zur Erscheinung kommt, also einer Erlebnisgesellschaft, in der es nur noch um die Herstellung von Erlebnissen geht und nicht um das, was erlebt wird, nicht um Wirklichkeit. Eine solche Zivilisation tendiert zur Selbstzerstörung. Sie bringt nämlich die Person zum Verschwinden und lässt nur abstrakte Erlebnissubjekte übrig, Subjekte ohne zeitliche Dimension, ohne biographische Identität.

Der intentionale Charakter der Gefühle

Die Fixierung auf den eigenen angenehmen Zustand, auf das eigene Gefühl verkennt nicht nur den funktionalen Sinn dieser Zustände, sie verkennt vor allem den intentionalen Charakter der Gefühle, also die Wirklichkeit, die sich im Gefühl offenbart. Das Wohlbehagen, die Lust dessen, dem es nur um das angenehme Gefühl geht und nicht um irgendetwas, an dem man seine Freude hat, illustriert Sokrates einmal mit dem Vergnügen dessen, der die Krätze hat und sich infolgedessen immer kratzen kann. Direkt intendieren können wir überhaupt nur körperliche Lustzustände, die insofern die niedrigsten sind als sie mit Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Depression durchaus zusammengehen. Auch mit dem was man Spaß nennt, kann man sich von Gefühlen innerer Leere ablenken. Es ist kein gutes Zeichen, dass das Wort "Spaß" derartig im Vordringen ist, dass sogar Gottesdienste damit empfohlen werden, dass sie Spaß machen. Freude ist etwas anderes als Spaß. Freude hat einen Inhalt und variiert mit ihren Inhalten. Die Freude über einen Frühlingsmorgen ist nicht dieselbe wie die Freude an einer Bach-Partita, und diese nicht dieselbe wie die Freude an einer anderen Bach-Partita. Freude ist immer Öffnung für Wirklichkeit.

Diejenige Öffnung für Wirklichkeit, die der Wirklichkeit vollständig adäquat ist, nennen wir Liebe. Liebe ist das Wirklichwerden des Anderen für mich. In jener Liebe, die in der Sprache der Tradition amor benevolentiae hieß, hört der Andere auf, Umwelt für mich zu sein, also ein vielleicht wichtiger Gegenstand, an dem ich hänge und der für mich große Bedeutung hat. In der Liebe realisieren wir, dass der Andere ebenso wirklich ist wie wir selbst, und wir lernen uns selbst als Teil der Welt des Anderen sehen so wie er Teil unserer Welt ist.

Das Mitsein der materiellen Welt

In diesem letzten Sinne wirklich können uns nur Personen werden. Aber ich habe darauf hingewiesen, dass das Sein, die Wirklichkeit von Personen nicht Bewusstsein, sondern Leben ist und dass uns deshalb nicht nur alles Bewusste, sondern alles Lebendige als wirklich gelten muss. Die cartesische Zweiteilung der Welt in Bewusstsein und Materie, die durch Ausdehnung definiert ist, diese Zweiteilung hat zur Entwirklichung der Wirklichkeit geführt, weil in ihr das Zwischenglied verschwunden ist, das seit Platon das Reden über Wirklichkeit bestimmte: Leben. Sein, Leben, Denken war die klassische Trichotomie. Leben aber war das eigentliche Paradigma des Seins. Bewusstsein galt als Steigerung von Leben. "Wer nicht erkennt," schreibt Thomas von Aquin, "der lebt nicht vollkommen, sondern hat nur ein halbes Leben". Bewusstes Leben ist volles Leben, also volle Wirklichkeit. Unbewusstes Leben behält ein Moment von Unbestimmtheit so wie unbewusste Gefühle, von denen es Sinn hat zu sagen, sie seien weniger wirklich als deutlich bewusste und sogar ausgesprochene. Es gibt Grade der Wirklichkeit.

Wie aber verhält es sich mit Sein unterhalb des Lebens? Solches Sein kommt zunächst innerhalb des Lebenszusammenhangs vor, als Umwelt, als Nahrung, als Teil unserer Nahrung, als Material für die Herstellung einer Welt des "Zuhandenen", wie Heidegger es genannt hat. Und es kommt vor als Gegenstand der Physik und Chemie. Hat es Sinn, von einer Wirklichkeit dieser unbelebten Materie jenseits dessen zu sprechen als was sie sich uns zeigt, also jenseits ihrer Gegenständlichkeit? Heideggers Sein und Zeit kennt dieses Jenseits nur als defiziente Form von Zuhandenheit. Was aus allen Lebensbezügen herausgefallen ist, ist das "nur noch Vorhandene". Die Kategorie des Mitseins scheidet hier aus. Aber ist das berechtigt? Das archaische Denken betrachtet die unbelebte Welt immer auch anthropomorph, also nach Analogie der belebten. Wasser und Feuer werden in den Psalmen zum Lob des Schöpfers aufgefordert, der Hl. Franziskus spricht von Brüdern und Schwestern, wenn er die Elemente anspricht. Übrigens geht es immer um Elemente, um natürliche Dinge, nicht um Artefakte. Artefakte sind Objekte, nicht Mitgeschöpfe. Es ist nicht irgendwie ein Auto zu sein, darum kann das Auto Gott nicht loben. Der Mensch kann höchstens dafür danken. In der Liturgie der katholischen Kirche wird in der Osternacht bei der Weihe des Taufwassers eine lange Rede gesungen, in der das Wasser angeredet wird. Ist das ein infantiles Relikt? Es ist ein solches Relikt, wenn wir uns entschließen, die unbelebte Materie für unwirklich zu halten, also für etwas, das darin aufgeht, für Lebewesen zuhanden oder aber Gegenstand der Wissenschaft zu sein. Wenn wir dem materiellen Sein Wirklichkeit in dem hier entfalteten Sinn zusprechen, dann sprechen wir ihm Mitsein zu und müssen auch ihm gegenüber neben der anthropozentrischen Rede die anthropomorphe als die wesentlichere zulassen.

Der wohl bedeutendste Metaphysiker unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts, der englische Mathematiker und Physiker Alfred North Whitehead, hat auf höchstem Abstraktionsniveau eine solche anthropomorphe Redeweise entwickelt. Er begnügte sich nicht mit den unbewussten und unfreiwilligen Anthropomorphismen, die wir jederzeit anwenden wenn wir von Dingen, von Identität, von Ursachen, von Möglichkeit, von Bewegung oder von Trägheit sprechen, das heißt also wenn wir überhaupt sprechen. Er wusste, dass wir nur per analogiam sprechen können, wenn es sich um außermenschliche Entitäten handelt, sei es um Tiere, sei es um Quanten. Je weiter von uns weg, um so weniger können wir sagen, was das andere Glied der Analogie an sich selbst ist. Aber schon die Tatsache, dass wir von einem "an sich selbst" sprechen, ist ein Beispiel für analoges Reden. Wir wissen schon nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wie es ist, ein Elementarteilchen zu sein, wissen wir noch weniger. Aber Whitehead geht davon aus, dass es irgendwie sein muss, falls wir berechtigt sind von Wirklichkeit zu sprechen. Wirklichkeit ist nie nur Objektivität für Subjekte und nie bloß inhaltslose Subjektivität. Wirklich nennen wir etwas nur, wenn es eine, wenn auch noch so rudimentäre Art von Subjektivität hat, und wenn diese Subjektivität einen objektiven Gehalt hat, wenn sie etwas "erlebt". Ausdrücke wie "Tendenz", "Erfüllung", ja sogar "Freude" mit Bezug auf die elementaren wirklichen Entitäten oder Ereignisse, die actual entities, wie Whitehead sagt, müssen natürlich so verstanden werden, dass alles im engeren Sinne Psychologische aus ihnen ferngehalten wird, alles, was wir mit bildhaften Vorstellungen füllen können. In einem ähnlich abstrakten und formalisierten Sinne hatte aber schon Leibniz den Monaden der untersten Art "Perzeptionen" zugesprochen und diese unterschieden von bewussten Apperzeptionen. Was heißt das? Apperzeptionen sind erlebte Einwirkungen. Aber was überhaupt Einwirkungen von etwas auf etwas sind, können wir nur denken, wenn wir von erlebten Eindrücken ausgehen und dann das Erleben abziehen. Wenn wir unbelebtem Seienden Wirklichkeit zusprechen wollen, dann können wir das nur, indem wir das Sein dieses Seienden als etwas dem Leben Ähnliches bestimmen, von dem wir bestimmte für Leben charakteristische Phänomene wie den Stoffwechsel abziehen, so wie wir Leben verstehen müssen als bewusstes Leben, von dem wir das Bewusstsein abziehen. Wirkliches Sein ist Mitsein oder es nicht wirklich.

Die Beziehung als eigentlich Wirkliches

Darin liegt nun ein Paradox. Bisher schien es so, dass das ontos on, wie die Griechen sagten, also das wirklich Seiende, dasjenige ist, was etwas als es selbst und für sich selbst ist, also jenseits seiner Gegenständlichkeit für anderes. Das Paradigma für solche Jenseitigkeit war unsere Selbsterfahrung. Nun hat es schon hiermit einen Haken. Es ist nämlich nicht so, dass wir selbst immer am besten wissen, wer wir sind. Andere können und müssen uns häufig über uns selbst aufklären, angefangen damit, dass sie uns von unserer Geburt erzählen, dass sie uns an Ereignisse erinnern, die wir selbst erlebt, aber vergessen haben, bis hin zu Deutungen unseres Verhaltens, in denen wir nicht umhin können, uns wieder zu erkennen, obwohl es uns vielleicht unangenehm ist. Vor allem aber: jenes Selbstbewusstsein, das es uns erlaubt, uns von allem zu distanzieren, als was wir anderen erscheinen, ist selbst nicht denkbar ohne eben jene anderen. Erst durch andere Personen lernen wir unser eigenes Personsein aktualisieren. Erst mit Hilfe der Sprache entsteht Selbstbewusstsein, und erst durch die Anerkennung als "jemand" durch andere "jemand" gewinnen wir elementare Selbstachtung bzw. jene natürliche und fundamentale Selbstliebe, ohne die es keine Liebe geben kann. Das heißt, nur durch den Blick anderer werden wir uns selbst sichtbar und wirklich. Das Wirkliche ist also nicht das Beziehungslose, es ist nicht das aus jeder Beziehung herausgelöste, isolierte Glied einer Beziehung. Das Wirkliche gibt es nur in dieser Beziehung selbst. Die Beziehung ist das eigentlich Wirkliche. Alle wirklichen Entitäten stehen in Wechselwirkung. Sie rezipieren und werden rezipiert. "Alles, was rezipiert wird, wird auf die Weise des Rezipierenden rezipiert", sagt ein scholastisches Adagium. Das heißt aber nicht, dass das Rezipierte in der Rezeption "verändert" wird. Das Wort verändern suggeriert, eine Sache sähe schon vor ihrem Wahrgenommenwerden anders aus als in der Auffassung des Wahmehmenden. Das aber setzt voraus, die Sache sähe vor aller Wahrnehmung und unabhängig von ihr überhaupt irgendwie aus. Aussehen ist aber wesentlich auf Sehen bezogen. So hätte es keinen Sinn, von Gestalten, von Körpern, von Mustern zu sprechen, wenn es nicht so etwas wie Gestaltwahrnehmung gäbe. Gestalten, aber auch die Muster auf der Oberfläche von Reptilien, Fischen und Vögeln, denen Adolf Portmann solche Aufmerksamkeit schenkte, sind daseinsrelativ auf mögliche Wahrnehmung. Es hat keinen Sinn zu sagen, es gäbe sie auch jenseits und unabhängig davon. Umgekehrt ist aber auch die Sinnesorganisation von Lebewesen darauf hingeordnet, etwas als Gestalt wahrzunehmen.

Das Eigentümliche des Menschen

Es wäre nun ganz falsch, diese Daseinsrelativität relativistisch zu interpretieren, also so, als ob Gestalten etwas, wie man sagt, "nur Subjektives" seien, etwas von Wahrnehmenden Konstruiertes. Was es gibt, sind Gestalten und deren Wahrnehmung, Farben und deren Wahrnehmung, Zahlen und deren Gedachtwerden, Werte und deren Gefühltwerden. Beide Seiten aber haben ihre Wirklichkeit jeweils nur in dieser Beziehung aufeinander. Es hat deshalb ebenso wenig Sinn zu sagen, die Gesetze der Mathematik und der Logik seien Produkte der menschlichen Psyche, wie es Sinn hat zu sagen, diese Gesetze würden auch dann existieren, wenn es überhaupt kein Denken gäbe. Wirklich ist jeweils das Ganze dieser polaren Struktur. Wirklich sind Farben und Töne, weil Sehen und Hören wirklich sind, aber Sehen und Hören sind nur wirklich, weil Farben und Töne wirklich sind. Wirklich ist jedes noch so ephemere Ereignis der oikeiosis, der Aneignung eines objektiven Gehaltes durch einen subjekten Pol. Das verkennt der Reduktionismus. Er reduziert die eine Seite der polaren Struktur auf die andere. Er ist monistisch. So glaubt er zum Beispiel, eine evolutionstheoretische Erklärung könne uns sagen, was Bewusstsein und Erkenntnis sind. Aber solche Erklärungen sind immer zirkulär. Sie setzen Gestalten voraus, zum Beispiel die des tierischen und des menschlichen Gehirns, sie setzen Kausalität voraus. Mutation und Selektion sind ja kausale Prozesse. Und dann nehmen sie diese Kategorien in Anspruch, um mit ihrer Hilfe Gestaltwahrnehmung und das Entstehen der Kategorie der Kausalität zu erklären. Aus der Wirklichkeit einer Beziehungsstruktur von Gestalt, von Bild und Wahrnehmung wird ein reduktionistisches Verfahren, indem die eine Seite dieser Beziehung zum Epiphänomen und die andere allein als wirklich erklärt wird. Aber der Preis für diesen Reduktionismus ist die Zirkularität, die stillschweigende, unbewusste Voraussetzung dessen, was man beweisen wollte. Die Glieder dieser Beziehung sind relativ aufeinander. Aber die Beziehung selbst ist das Wirkliche. Und sie als das Wirkliche, also Wirklichkeit als Wirklichkeit auffassen zu können, ist das Eigentümliche des Menschen. Es ist die höchste Form von geistiger Aktivität, Selbsttranszendenz. Es ist ein ganz falscher Gedanke, etwas werde umso adäquater erkannt, je passiver der Erkennende sich verhält. Wir wissen das doch aus dem gegenseitigen Verhältnis von Menschen. Ich kann nicht hoffen, dem Wesen eines anderen Menschen näherzukommen, wenn ich von mir selbst nichts investiere. Ich bleibe dann ganz an der Oberfläche. Wenn ich aber etwas investiere, wenn ich mich selbst in diese Beziehung einlasse, dann trägt die Erkenntnis natürlich die Spuren des Erkennenden, sie ist eine sehr persönliche. Aber anders ist Erkenntnis von Wirklichkeit nicht zu haben.

Dieser Sachverhalt wird uns heute besonders deutlich, weil wir durch die moderne bildende Kunst darauf aufmerksam gemacht werden. Seit dem 16. Jahrhundert war die europäische Kunst Illusionskunst. Entscheidend war die Einführung der Zentralperspektive in der Malerei. Das gleiche gilt auch für die Architektur und die Bildhauerei. Die Säulen unserer Barockkirchen sind in der Regel nicht aus Marmor, sonden sie sollen so aussehen, als wären sie aus Marmor. Und die Skulpturen, die so lebendig wirken, sind oft hohl und haben keine Rückseite. Die Kunst war es, die den Weg zur Virtualisierung der Realität gebahnt hat. Aber die Kunst ist es nun auch, die als erste das auf diesem Weg Verlorene, die Wirklichkeit zu erinnern beginnt. In einer immer virtueller werdenden Welt übernimmt sie es, die Kostbarkeit des Seins darzustellen. Was bedeutet es, wenn in der Zeit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, wo das Original von der Simulation immer weniger unterscheidbar ist, die Authentizät des Originals eine geradezu magische Bedeutung gewinnt, eine Bedeutung, die nur mit der "Gültigkeit" von Sakramenten vergleichbar ist. Diese Gültigkeit beruht ja auf der sinnlichen Realität einer Berührung, die auf der lückenlosen Folge von Handauflegen bis hin zum Stifter beruht. Die Authentitzität des Kunstwerks beruht auf der originalen Berührung dieses Stückes Leinwand durch diesen Künstler. Bei der zu einem Osterhasen umgeschmolzenen Kaiserkrone von Beuys hängt alles daran, dass sich diese Geschichte wirklich zugetragen hat. Denn ansehen kann man sich den Hasen nicht. In einer immer mehr den Schein kultivierenden Welt übernimmt die Kunst in Umkehrung des traditionellen Verhältnisses die Rolle der Repräsentation der Wirklichkeit, des Seins, das sich in die Unsichtbarkeit zurückgezogen hat.

Beim verchromten Stab von ca. 100 m Länge, den Walter de Maria anlässlich einer Kasseler Dokumenta in die Erde versenkt hat, sieht man die Schnittfläche des Stabes, eine kleine silberne Scheibe auf dem Boden. Nicht was man sieht, ist das Wesentliche, sondern worauf es ankommt ist, von der Wirklichkeit des versenkten Stabes zu wissen, die durch diese kleine Scheibe repräsentiert wird. Worauf es ankommt ist die Aktivität des Betrachters, der sich das, was er nicht sieht, ausdrücklich zu Bewußtsein bringt. Auch hier übernimmt die Kunst eine quasi sakramentale Funktion.

Es handelt sich bei diesem Text um einen Vortrag, den Prof. Dr. Robert Spaemann am 8. Februar 2000 vor der Bayerischen Akademie der schönen Künste gehalten hat.


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Die Entdeckung der Person

Damit berühren wir den originellsten und in der bisherigen Rezeption wohl am wenigsten verstandenen Aspekt von Spaemanns Philosophie der Person, den des freien Willens. In einem der erhellendsten Abschnitte des Buches, „Warum wir Personen ,Personen‘ nennen“, zieht Spaemann die strikte Grenze, welche die gesamte antike Metaphysik von der „Entdeckung der Person“, die wesentlich dem Christentum zu verdanken ist, ab- und ausgeschlossen hat. „Die Vernunft ist“, so Spaemann mit Blick auf Platon, „das Organ des Allgemeinen. Wo sie regiert, ist der Mensch frei. Aber warum regiert sie in vielen Menschen nicht? Sie ist doch zum Regieren da … Jeder Mensch will das für ihn Gute … Wenn er dies nicht will, dann nur, weil er es nicht kennt. Warum kennt er es nicht? Hier beginnt sich die antike Philosophie im Kreise zu drehen.“ Was Platon nicht kennt, ist, was die Christen das „Herz“ nannten, den Ort im Innersten des vernünftigen Wesens, an dem die Entscheidung für das Vernünftige fällt, die nicht selbst noch einmal aus der Vernunft ableitbar ist.

Aus: Walter Schweidler, Freiheit durch Vernunft. Was unterscheidet "etwas" und "jemand"? Spaemanns Philosophie der Person gibt Antworten (Tagespost vom 10. Oktober); eine Rezension des Buches von Robert Spaemann: Personen: Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Stuttgart 2019


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