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Die gegenwärtige Psychotherapieszene und die Frage nach dem Sinn

Von Dr. Christian Spaemann

I. Einleitung

Im Mangel an Selbsttranszendenz, der Fähigkeit des Menschen sich selbst zu überschreiten, sah Viktor Frankl ein Hauptübel unserer Zeit. Selbstüberschreitung, das war ihm nicht erreichbar über die Frage “Was will ich vom Leben?”, sondern nur über die Frage “Was will das Leben von mir?”. Der Inbegriff dessen, was uns diese Frage beantworten lässt, war ihm das Gewissen. Das Gewissen ermöglicht es dem Menschen in jeder Situation mit dem je einmaligen Anruf des Lebens in Berührung zu kommen und so den Lebenssinn zu realisieren. Guardini sprach im selben Sinne von dem Gewissen als dem, “Organ für die Forderung des Guten, so wie es sich in einer bestimmten Situation zeigt.”

Was Viktor Frankl nicht aufgehört hat anzuprangern war die Tatsache, dass die Hauptströmungen der Psychotherapie, mit denen er sich im Wien seiner Studienjahre auseinandergesetzt hatte, diese Möglichkeit der Selbstüberschreitung nicht in den Blick bekamen. Gemeint war vor allem die Psychoanalyse Freuds und die Individualpsychologie seines Lehrers Alfred Adler.

Im “Willen zur Lust” als grundlegende Motivation bleibt der Mensch Sigmund Freuds ganz bei sich. Vollzieht Adler zwar die “kopernikanische Wende”, von der Frankl gerne gesprochen hat, und sieht die Motive der Menschen von ihren Zielen her bestimmt, so ist es dennoch nicht die Sache selbst, die das Individuum aus sich herausführt. Seine Ziele werden vielmehr von den unterstellten Minderwertigkeitsgefühlen her entlarvt, so dass der Mensch in seinem “Willen zur Macht” bei Alfred Adler letztlich auch bei sich bleibt.

Mit solch einem Reduktionismus war in den Augen Viktor Frankls die Psychoanalyse nicht imstande, den Menschen die Möglichkeit der Selbstüberschreitung als Quelle authentischen Menschseins zu vermitteln. Im Gegenteil, durch ihr reduktionistisches Verständnis vom Menschen leiste sie nach Frankl einem deterministischen und damit Verantwortung und Freiheit schwächenden Selbstverständnis des Menschen Vorschub. Sollte so der polemische Satz von Karl Kraus zutreffen, dass die Psychoanalyse genau die Erkrankung ist, die sie vorgibt zu heilen? Wenn ja, hat sich diese Situation bei den heute gängigen Psychotherapieverfahren geändert?

Ich möchte im Folgenden zunächst der Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Psychotherapie als einem spezifischen Phänomen unserer Zeit und dem Mangel an Selbsttranszendenz, den Viktor Frankl als typisch für unsere Gegenwart konstatiert hat, nachgehen. Im Anschluss daran soll anhand eines Fallbeispiels zwei heute in unserem Gesundheitssystem etablierte Psychotherapieformen auf ihren Umgang mit der eingeschränkten Selbsttranszendenz hin untersucht und mit der Psychotherapiekritik Viktor Frankls konfrontiert werden. Schließlich möchte ich noch auf die seit längerem schon zu beobachtende Verquickung von Psychotherapieszene und Spiritualität eingehen.

II. Psychotherapie als Massenphänomen unserer Zeit

Für die Untersuchung des Verhältnisses von Psychotherapieszene oder auch “Psychokultur” zur Sinnfrage in unserer Gesellschaft halte ich es für sinnvoll, sich die Frage zu stellen, wie es zur Psychotherapie als Massenphänomen und -bedürfnis unserer Zeit gekommen ist.

In verschiedenen Studien wird der Bedarf an Psychotherapie in unserer Bevölkerung auf durchschnittlich 25% geschätzt. Diesem Bedarf stehen ca. 18000 kassenärztlich anerkannte Psychotherapeuten gegenüber. Ich denke, es wäre zu kurz gegriffen, wenn man meint, diesen Bedarf an Psychotherapie mit einer epidemiologischen Expertenstudie erklären zu können, etwa so wie bei einer bisher nicht erfassten Infektionserkrankung. Es spricht vieles dafür, dass dem verbreiteten Bedürfnis nach Psychotherapie über schwerere seelische Störungen hinaus sehr wohl eine spezifische Bewusstseinsentwicklung in unserer Gesellschaft zu Grunde liegt, die den in den letzten hundert Jahren entwickelten Psychotherapiemöglichkeiten entgegenkommt.

Der amerikanischen Soziologe David Riesman hat in seinem viel beachteten, 1950 erschienenen Werk “The Lonely Crowd” (“Die einsame Masse”) die These aufgestellt, dass jede Gesellschaft mehr oder weniger den Menschentyp hervorbringt, den sie braucht. Den verschiedenen Phasen der Bevölkerungsentwicklung seit dem Mittelalter ordnete er entsprechende soziale Charaktere zu: Neigte der sogenannte traditionsgeleitete Menschentyp gemäß der stabilen Gesellschaftsordnung, in der er lebte, noch ganz zur Verhaltenskonformität, kommt es in der zweiten Phase der Bevölkerungsentwicklung zur Heranbildung des sogenannten innengeleiteten Typs: Das allgemeine Wirtschaftswachstum führt zu einem Aufbrechen festgefügter Lebensweisen und -räume, die Rollen sind nicht mehr vorherbestimmt, die Söhne ergreifen nicht mehr automatisch den Beruf der Väter, die Mobilität nimmt zu. Hier heißt es nicht mehr, einen festen Verhaltenskodex zu übernehmen, um durchs Leben zu kommen. Stattdessen muss in der Erziehung ein übergeordnetes moralisches Programm im Menschen verankert werden, das es ihm ermöglicht, mit einer gewissen Flexibilität individuelle Lebensziele zu verfolgen, die ganz im Vordergrund des Lebens stehen. Dieser Menschentyp reagiert nach Riesman auf Infragestellungen seines moralischen Programms, sei es durch die umgebende Kultur, sei es durch innere Antriebe, am ehesten mit Schuldgefühlen. Er ist durch diese Möglichkeiten der Irritierung durchaus neuroseanfällig.

Der dritte soziale Charaktertyp in der Phase der beginnenden Bevölkerungsschrumpfung ist schließlich der sogenannte außengeleitete Typ: In einer bürokratisch verwalteten Massengesellschaft, in der sich überkommene Traditionen noch weiter gelockert haben, ist der Menschen der aufstrebenden Mittelklasse, der energisch seine Ziele verfolgt, weniger gefragt. Die Rollen sind in dieser Phase zunehmend von der persönlichen Integration in eine wie immer definierte Gemeinschaft, z.B. eines Teams am Arbeitsplatz, bestimmt. Ein Druck zur Angleichung der sozialen Klassen macht sich bemerkbar. Um hier bestehen zu können ist der Mensch zunehmend in einer Situation, in der er lernen muss, die “Fühler” auszustrecken, um die Signale seiner Umgebung wahrzunehmen. Der Anpassungsdruck geht nach Riesman so weit, dass der einzelne in seiner Empfangsbereitschaft für die Urteile und Motive der anderen sogar auf Übereinstimmung mit den inneren Erfahrungswelten der anderen abzielt. Eine Verpersönlichung des Umgangstones, vor allem im Arbeitsleben, setzt ein. Diese Entwicklung führt zu einer allgemeinen Unsicherheit im Umgang der Menschen untereinander. Anstelle der Kontrollen des Verhaltens durch Scham oder Schuldgefühle, wie in den früher dominierenden Charakteren, tritt nun eine diffuse Angst.

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in eindrucksvollen Publikationen diese Entwicklung bestätigt und weiter ausgeführt. Unter dem Stichwort Tyrannei der Intimität sieht Sennett in unserer Kultur einen grundlegenden narzisstischen Zug: Gefühle haben keine allgemein verbindlichen Formen mehr, in denen sie zum Ausdruck kommen. Diese Formen ermöglichten in der Vergangenheit leidenschaftliche Auseinandersetzungen über öffentliche Themen oder auch eine Kultur der oberflächlichen Geselligkeit. Begriffe wie Brautwahl, Werbung und Heirat oder auch Verführung spiegeln die öffentliche, soziale Dimension der Sexualität wieder. An Stelle dieses Ausdrucks von Gefühlen im Rahmen allgemeinverbindlicher Formen trat nun der Anspruch individueller Authentizität, die Suche nach dem wahren Selbst bei sich und den anderen. Durch diese Wendung des Individuums in sich selbst entstand nach Sennett ein grundlegendes Gefühlsdefizit bei den Menschen unserer Zeit. Den Gefühlen fehlen allgemeingültige Formen des Ausdrucks, sie “versickern” in Zuständlichkeiten. Dies hat nach Sennett weitreichende Konsequenzen für unsere Kultur, die Arbeitswelt und das private Leben. So richtet sich z.B. in der Arbeitswelt die Beurteilung der Angestellten durch die Vorgesetzten mehr auf Persönlichkeitseigenschaften wie Flexibilität gegenüber unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen und Anpassungsvermögen als auf objektive Fertigkeiten, über die der Angestellte verfügt. (Wir können diese Entwicklung verfolgen, wenn wir einige der heute längst nicht mehr nur in der Privatwirtschaft verwendeten Leistungsbeurteilungsbögen anschauen. In ihnen geht es nur noch zum geringeren Teil um objektivierbare Leistungen, sondern vorwiegend um eine Durchleuchtung des Angestellten hinsichtlich seiner Kommunikationsfähigkeit und Flexibilität).

Der innengeleitete Mensch Riesmanns ist es, der auf Grund seines gesicherten moralischen Programms nicht in erster Linie an Persönlichem interessiert sein musste, um mit seinen Begabungen und Zielen nach außen treten zu können. Umgekehrt ist der verunsicherte, außengeleitete Mensch derjenige, der an seine eigene Befindlichkeit zurückverwiesen ist, also nach innen geleitet wird, um die Signale der anderen überhaupt interpretieren zu können. Riesman verdeutlicht dies, indem er zeigt auf welch unterschiedlichem Weg diese verschiedenen sozialen Charaktere nach Autonomie streben: Während es bei dem innengeleiteten Menschen der aufstrebenden Gesellschaft darauf ankommt, dass er sich seines Programms bewusst ist, um es auf die Gegebenheiten des Lebens modifizierend einzustellen, sieht die Situation des außengeleiteten Menschen sehr viel komplizierter aus: Ist er in seiner Autonomie auch nicht mehr durch die offensichtlichen Gesetze der Tradition oder ein fixes moralisches Programm der Erziehung eingeschränkt, so steht er in seiner verpersönlichten Umwelt der Arbeit und Freizeit viel subtileren Formen der Autorität und des Zwanges gegenüber. Diesen kann er nach Riesman nur durch fortschreitende Kenntnis seiner eigenen Gefühlsregungen und Interaktionsweisen begegnen. Ich denke, es ist im Sinne Riesmans, wenn man feststellt, dass der Mensch in seinem Streben nach Autonomie heute geradezu auf Psychologie und Psychotherapie angewiesen ist. So besehen wird Psychotherapie zu einem Zeitphänomen.

Die historische Entwicklung hin zu einem Massenbedürfnis nach Psychotherapie besteht demnach nicht darin, dass seelisches Leid gegenüber früheren Zeiten zugenommen hätte, sondern vielmehr darin, dass der heutige Mensch nach Riesman auf die Reflexion seines Seelenlebens angewiesen ist. Nicht, dass der nach Riesmann innengeleitete Menschentyp des Bevölkerungswachstums keine Psychotherapie gebraucht hätte. Wir sahen, dass er sehr wohl störanfällig ist, wenn sein moralisches System in Frage gestellt wird. Wir dürfen annehmen, dass zur Zeit Freuds gerade dieser Menschentyp verbreiteter war als heute. Was ihm wesentlich vom dritten sozialen Charakter der beginnenden Bevölkerungsschrumpfung unterscheidet, ist der Umstand, dass er sich nicht von sich aus über eine Gewissenserforschung hinaus mit seiner Psyche beschäftigt. Er ist gerade nicht der Mensch der “Psychokultur”, man könnte auch sagen: Selbsttranszendenz ist ihm kein primäres Problem. Sein Problem ist eher ein Mangel an innerem Spielraum, Selbsttranszendenz zu realisieren. Es kommt zu Konflikten, die Freud mit seinen Instanzen “Ich”, “Es” und “Überich” zu beschreiben sich bemühte. Dem nach Riesman außengeleiteten Charaktertyp hingegen ist die Selbsttranszendenz als solche zum Problem geworden. Mangel an Selbsttranszendenz und Massenbedürfnis nach Psychotherapie erweisen sich so als zwei Seiten einer Medaille.

III. Die Frage nach der Selbsttranszendenz in den einzelnen Psychotherapien

Ich möchte nun wenigstens umrisshaft der Frage nachgehen, was die im öffentlichen Gesundheitswesen etablierten Psychotherapien im Hinblick auf die Möglichkeit des Menschen, sich selbst überschreiten zu können, leisten, um mich dann der Kritik Frankls an der Psychotherapieszene zuzuwenden.

Zur Erläuterung dessen, was mit Selbsttranszendenz gemeint ist, führte Viktor Frankl gerne das Beispiel des menschlichen Auges an: Das gesunde Auge selbst wird beim Akt des Sehens nicht wahrgenommen, es verwirklicht also seine Funktion, indem der Sehende ganz bei dem ist, was wahrgenommen wird. Das Auge muss erkranken, um beim Sehen wahrgenommen zu werden, z.B. wenn ein Katarakt den Blick trübt. Ähnlich, so Frankl, ist es mit unserem Seelenleben: Der Mensch braucht eine Aufgabe oder das Du eines geliebten Partners, um sich so in selbstvergessener Hingabe zu verwirklichen. Dies nicht zu können, ist die eigentliche neurotische Erkrankung. Meine Frage lautet nun: Wie findet der psychisch leidende Mensch zur Selbsttranszendenz? Indem er einfach seine Freiheit nutzt, auf die Stimme des Gewissens hört, sich der gefundenen Aufgabe hingibt und so den Lebenssinn realisiert? Reichen hier Appelle? Genügt eine nach vorne gerichtete “Sinnfindungstherapie”?

Um dem Problem näher zukommen, möchte ich Ihnen zwei Sätze über das Gewissen aus den Ethikvorlesungen Romano Guardinis zitieren: “Damit das Gewissen wirklich reden könne, muss ... der innere Raum der Freiheit offen sein; der angerufene muss seine eigene Mitte fühlen; Herr seiner Anfangskraft sein. Erst dadurch bildet sich jenes innere Gegenüber zwischen dem vernehmenden Herzen und dem verpflichtenden Guten, das mit der Gewissenserfahrung gemeint ist”.

Bei dem inneren “Raum der Freiheit”, von dem Guardini spricht, handelt es sich um den Raum der Psyche, nicht um die noetische, geistige Ebene. Dieser Bereich der Gefühle, Triebe und Bedürfnisse bekommt beim Menschen, im Gegensatz zum Tier, eine völlig andere Bedeutung: Er ist ganz hineingenommen in die Dimension des Geistes, in das, was wir mit solchen Begriffen wie Sinn, Gewissen, Schönheit und Liebe umschreiben, Begriffe, die die Möglichkeit der Selbstüberschreitung anzeigen. Liebe ist, um ein Beispiel zu nennen, nicht einfach die Erfüllung eines Bedürfnisses, durch die jemand “emotional versorgt” wird und so seine seelische Homöostase aufrechterhält. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Indem zwei Individuen sich um ihrer selbst willen lieben, wird auch ein homöostatisches Bedürfnis befriedigt. In der Dimension des Geistes werden aus Gefühlszuständen intentionale Gefühle. Die psychische Ebene, der Innenraum der Freiheit, also das Instrument, so könnte man sagen, mit dem der Mensch in der Welt steht, ist beim seelisch gestörten Menschen betroffen und in seinen Möglichkeiten eingeschränkt.

Wie verhalten sich aber nun die heute etablierten Therapien zu diesen Einschränkungen? Helfen sie, diese zu überwinden, oder handelt es sich bei ihnen um eine Selbsttäuschung von Therapeut und Patient, bei der letztlich der Verlust an Selbsttranszendenz unter anderen Vorzeichen fortschreitet? Um nicht zu sehr in der Theorie zu bleiben, möchte ich Ihnen ein Fallbeispiel geben, an dem ich zwei heute etablierte therapeutische Sichtweisen vorstelle und auf ihre Funktion zur Förderung der Selbsttranszendenz hin überprüfe.

Ein 38 jähriger Patient, verheiratet, zwei Kinder, mittlerer Angestellter eines Großunternehmens, wird mit einer Agoraphobie in eine Psychosomatische Klinik aufgenommen. Er leidet unter Panikanfällen in geschlossenen Räumen, vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln und bei Menschenansammlungen. Diese Situationen meidet er, da er befürchtet, bei solch einem Anfall zusammenzubrechen oder zu sterben. Bei der Erörterung der Hintergrundsproblematik stellt sich heraus, dass der Patient schon immer eine gewisse Ängstlichkeit, vor allem im Umgang mit Autoritäten, hatte. Diese führt er auf seine Entwicklung in der Herkunftsfamilie zurück. Der Patient berichtet weiter, dass seine Ehefrau eine noch ängstlichere Person sei als er. Sie habe Mühe, mit den zwei sehr lebendigen Kindern zurecht zu kommen. Auf kleine Auseinandersetzungen des Alltags reagiere sie gereizt. Des Weiteren stellt sich heraus, dass Herr K. seit zwei Jahren eine außereheliche Beziehung hat, gerade so lange wie seine Angstanfälle bestehen. Herr K. fühlt sich von seiner Ehefrau wegen deren leichten Reizbarkeit gegängelt und kontrolliert sowie auf Grund ihrer Überforderung im Umgang mit den Kindern, im Jargon gesprochen, “emotional unterversorgt”. Dennoch, so betont er, stehe er zu seiner Frau, traue sich aber nicht, eigene Wünsche offen anzusprechen, da er meint, seine Frau könne solch einen Konflikt nicht aushalten. Bei einem Paargespräch stellt sich die Kommunikation zwischen dem Ehepaar als undeutlich und extrem konfliktvermeidend dar. Zum persönlichen Hintergrund des Patienten sei noch erwähnt, dass Herr K. aus einem kleinstädtischen Milieu stammt. Sein Vater hatte ein kleines Geschäft, er wird von dem Patienten als sehr streng und selbstbewusst geschildert. Er habe seinem Sohn die moralischen Prinzipien weitergeben wollen, die ihm durchs Leben geholfen hätten. Er selber habe sich bald von diesen Prinzipien gelöst, was es ihm auch leichter gemacht habe, eine Nebenbeziehung aufzunehmen.

In diesem Fallbeispiel ist unschwer zu erkennen, dass es sich bei Herrn K. um einen typischen Fall des außengeleiteten sozialen Charakters nach Riesman handelt, im Gegensatz zum Vater, der dem innengeleiteten Charaktertyp angehört. Eine gewisse Ängstlichkeit unseres Patienten vor der Autorität des Vaters konnte sich nicht durch eigene berufliche Selbstständigkeit und damit positive Identifikation mit dem Vater auflösen, sondern wurde durch die Unwägsamkeiten seines ständig sich umstrukturierenden Betriebs und dessen diffusen hirarchischen Strukturen verstärkt. Die strengen moralischen Prinzipien des Vaters hatten sich nicht bewährt und wurden aufgegeben.

Wenden wir uns nun anhand dieses Fallbeispiels den zwei, auf ihre Stärkung der Selbsttranszendenz hin zu überprüfenden, therapeutischen Interventionsmöglichkeiten zu. Es handelt sich um eine kognitiv behaviorale Einzeltherapie, in der Elemente aus der systemischen Familientherapie zum Zuge kommen, und um eine körperorientierte Therapie, die für unseren Zusammenhang nicht näher spezifiziert werden muss. Beide Therapieformen sind heute fester Bestandteil Psychosomatischer Kliniken und psychotherapeutischer Praxen.

Bei der kognitiv behavioralen Therapie handelt es sich um eines der heute am weitesten verbreiteten, anerkannten und evaluierten Verfahren. Arbeitsfeld ist einerseits die Analyse derjenigen Verhaltensweisen auf kognitiver, emotionaler und physischer Ebene, die als dysfunktionale dazu beitragen, dass wesentliche Lebensziele nicht erreicht werden. Andererseits gehört zur verhaltenstherapeutischen Arbeit ein Umlernprozess, bei dem ausgehend von neu gewonnenen kognitiven Einstellungen und unter Inkaufnahme unangenehmer Gefühle, neue, bislang vermiedene Verhaltensweisen eingeübt und automatisiert werden. Die Systemische Familientherapie stammt aus der Systemtheorie und Kommunikationsforschung. Inzwischen hat sich fast jeder Verhaltenstherapeut mit ihrer Sichtweise und ihren Möglichkeiten beschäftigt, da diese über verhaltensanalytische Betrachtung hinausgehende Perspektiven eröffnen.

In unserem Fall wird zunächst eine Verhaltensanalyse der angstauslösenden Situationen erstellt und mit dem Patienten ein Expositionstraining zur Überwindung seines Vermeidungsverhaltens geplant und durchgeführt. Diese Therapie ist in ihrer Bedeutung für die Möglichkeit zur Selbsttranszendenz unmittelbar einleuchtend und bedarf keiner näheren Erläuterung. Deshalb können wir uns gleich der Bearbeitung der Hintergrundsproblematik zuwenden: Wie schon erwähnt, stellte sich in dem durchgeführten Paargespräch eine undeutliche und extrem konfliktvermeidende Kommunikation zwischen dem Ehepaar heraus. Diese vordergründige Harmonie stand in deutlichem Gegensatz zu dem, was der Patient in den Einzelgesprächen sagte, nämlich, dass er sich von seiner Ehefrau wegen deren leichten Reizbarkeit gegängelt und kontrolliert sowie auf Grund ihrer Überforderung im Umgang mit den Kindern “emotional unterversorgt” fühle. In dem dem Paargespräch nachfolgenden Einzelgespräch betonte er, mit diesem Gegensatz konfrontiert, am Erhalt seiner Familie interessiert zu sein. Aus systemischer Perspektive geht dieser Mann also fremd, um seine Familie zu schützen, da er befürchtet, beim Anmelden eigener Ansprüche den Bestand der Familie zu gefährden. Das nun folgende Aufdecken dieses systemischen Zusammenhangs soll dem Patienten helfen, jenseits moralischer Bewertung sein Verhalten in seiner Bedeutung für den Erhalt der Familie zu erkennen und zu würdigen. Dies kann dazu beitragen, daß er bereit wird, sich die Dysfunktionalität seines bisherigen Verhaltens einzugestehen und sich mit Alternativen auseinanderzusetzen. Möglicherweise wird er dann bereit sein, mehr Risiko in der Beziehung zu seiner Ehefrau einzugehen und direkter mit ihr zu kommunizieren. Wir können bei diesem Therapieabschnitt eine reflexive Bewegung in zwei entgegengesetzte Richtungen erkennen: Einmal geht der Fokus der Aufmerksamkeit des Patienten in einer Reflexion auf eigene Verhaltensmuster, im vorliegenden Fall auf sein Vermeidungsverhalten und auf die mögliche Bedeutung dieses Verhaltens, um sich dann auf eine alternative Verhaltensmöglichkeit zu konzentrieren, nämlich auf eine unmittelbarere Kommunikation. In solch einer unmittelbareren Kommunikation liegt per se ein stärkerer Außenbezug und dadurch wiederum eine Ermöglichung von Selbsttranszendenz.

Werfen wir nun den Blick auf eine nicht näher spezifizierte Körpererfahrungstherapie. Das Faszinierende an der körperorientierten Therapie ist die Tatsache, daß in ihr eigene Verhaltensweisen im Umgang mit sich selbst und mit anderen nicht nur, wie in den therapeutischen Gesprächen, intellektuell erkannt, sondern leibhaft gespürt werden können, was zu einer größeren Nähe des Einzelnen zu seinem Problemverhalten führen und eine höhere Lernbereitschaft bewirken kann. In unserem Fall bedeutet dies, dass Herr K. bereits in unmittelbarer Berührung mit seiner gelernten Haltung gegenüber Autoritäten und gegenüber sich selbst ist, wenn diese Therapie ihm die Situationen seiner Ängstlichkeit erfahren lässt. Die Körperhaltung und der Blickkontakt unseres Patienten z.B. gegenüber seinem Chef bestimmen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil sein Gefühlsleben und sein weiteres Verhalten. Die Selbstwahrnehmung dient hier dazu, das dem Leiden zugrundeliegende dysfunktionale Verhalten aufzudecken und einen Umlernprozeß einzuleiten. Dabei ist der Aufmerksamkeitsfokus des Patienten einmal auf seine Körperhaltung gegenüber anderen und auf die darin zum Ausdruck kommenden eigenen Gefühle wie Ängstlichkeit und Unsicherheit gerichtet. Diese signalisieren eingeschränkten Außenbezug. Dann wieder richtet sich der Fokus auf eine alternative Verhaltensmöglichkeit, wie z.B. eine aufrechte Körperhaltung und einen ruhigen Blickkontakt. Diese neue Haltung repräsentiert einen natürlichen, nicht beeinträchtigten Außenbezug. Gemäß der Erkenntnis, dass nicht nur Gefühle Verhalten, sondern auch umgekehrt Verhalten Gefühle bestimmen, wird hier ein Umlernprozess, auch der Gefühlswelt induziert. Hierzu gehören allerdings nicht nur die Erfahrung sich besser zu fühlen, wenn man gerade steht, sondern auch Erfahrungen im Außenbezug, z.B., dass der Chef positiv und nicht wie zuvor vermutet strafend auf die neue Haltung reagiert. Der Aufmerksamkeitsfokus wird also sukzessive nach außen verlagert. Vorraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Aufmerksamkeit zunächst nach innen gelenkt wird, andernfalls ist nicht mit einer Verhaltensänderung zu rechnen. Die neu gewonnene Freiheit der Haltung kann der Selbsttranszendenz im Franklschen Sinne dienen. Ich habe nun versucht, Ihnen einen kurzen Einblick in die verschiedenen Ebenen einer alltäglichen psychotherapeutischen Arbeit unter dem Gesichtspunkt der Selbsttranszendenz zu geben. Dabei kann man zusammenfassend feststellen, daß im vorliegenden Fall alle o.g. Therapieformen im Dienst eines freien Außenbezugs stehen. Dieser stellt noch keine Selbsttranszendenz im Sinne der Hingabe dar, wohl aber eine Ermöglichung dieser im Sinne der Stärkung der “Anfangskraft”, von der Guardini spricht.

Dennoch kann man die genannten therapeutischen Sichtweisen aus anthropologischer Sicht als reduktionistisch bezeichnen, insofern sie Aspekte der Psyche betreffen und die Freiheit der Person in ihren Konzepten nur eine eingeschränkte Rolle spielt. So bleibt z. B. in der Verhaltenstherapie der Subjektbegriff merkwürdig leer. Indem geistige Inhalte, wie Werte und Lebenshaltungen, die Grundlagen der Willensbildung sind, zu kognitiven Variablen werden, sind sie austauschbar. Ihr intentionaler Gehalt wird wenig gewürdigt. In den systemischen Sichtweisen wiederum rückt der homöostatische Aspekt als Grundlage der Willensbildung stärker in den Vordergrund. Hierdurch wird gegenüber der Verhaltenstherapie weniger von einem defizitären Verständnis menschlichen Problemverhaltens ausgegangen. Dieses Problemverhalten wird vielmehr in seiner homöostatischen Bedeutung gewürdigt. Dafür aber kommt der Aspekt der Freiheit des Subjekts gegenüber der Verhaltenstherapie noch weniger zum Tragen.

Wie wir sehen, weisen alle besprochenen Therapien, und dazu gehören auch fast alle anderen etablierten Therapieformen, vor allem die Psychoanalyse, nicht unmittelbar über das Subjekt hinaus. In der Art und Weise, wie diese Therapien konzeptionell und praktisch vorgehen, sind sie reduktionistisch. Ich meine, sie müssen es sein! Störung bedeutet nämlich bei einem lebendigen Organismus an sich schon eine Reduktion. Bei einer psychischen Störung sind die Gefühle, Triebe und Bedürfnisse des Menschen aus der ursprünglichen Einheit mit dem Geist herausgefallen, sie stehen nicht mehr eindeutig in den Bedeutungszusammenhängen des Geistes, wie wir sie oben angedeutet hatten. Insofern bekommen die psychischen Vorgänge schon qua Störung eine reduzierte Bedeutung. Aus diesem Grund müssen psychotherapeutische Modelle an diese vorgegebene Reduktion anknüpfen.

Nehmen wir zur Verdeutlichung des Gemeinten ein Beispiel aus der Organmedizin: Will ein moderner, an der Erhaltung der Funktion orientierter Weichteilchirurg einen Tumor aus einem Oberschenkel entfernt, kann er nicht primär an der Komplexität des freien Ganges anknüpfen. Dieser wird im Gehirn koordiniert. Er muß sich vielmehr an den Funktionen einzelner Muskelpartien orientieren, d.h. ein reduktionistisches Bild vom Gang des Menschen vor Augen haben. Was ich hier verdeutlichen will ist, daß aus diesem Reduktionismus keineswegs folgt, daß die einzelnen Therapieformen nicht im Dienste der menschlichen Selbsttranszendenz stehen können. Ich sage bewußt können, denn zum einen haben diese Therapien nicht primär Selbstranszendenz in dem hehren Sinne Frankls vor Augen, sondern die Ermöglichung eines inneren Freiheitsspielraumes, der vom Patienten ganz verschieden benutzt werden kann. Zum anderen bergen diese Psychotherapien auch Gefahren in Bezug auf die Ermöglichung von Selbsttranszendenz in sich: Es besteht die Möglichkeit, daß der Patient, vielleicht unter dem Einfluß eines psychologistischen Klimas in seiner Umgebung, in der Reflexion stecken bleibt und in ihr als einem fortlaufenden Prozeß Halt sucht. Der amerikanische Psychologe Kanfer hat dies treffend als “Woody-Allen-Therapie” bezeichnet. Woody Allen befindet sich seit über dreißig Jahren in Psychoanalyse. Auch kann es vorkommen, daß der Therapeut, wenn er in seinem geistigen Horizont auf das angewendete Therapiemodell eingeschränkt ist, die Signale des Geistes übersieht, Gesundes pathologisiert, es versäumt, den Patienten rechtzeitig mit seiner noetischen Ebene zu konfrontieren und nicht zuletzt die Chance verpasst, die bisweilen wie ein Zaubermittel wirkende Frage zu stellen: “Was will das Leben von Dir?”

Fazit ist, dass wir Psychotherapeuten Viktor Frankls Lehre dringend brauchen! Über die Grenzlinien und möglichen Verzahnungen unterschiedlicher Einzeltherapien mit logotherapeutischen Ergänzungen ist bisher viel zu wenig nachgedacht worden, von mangelnder empirischer Forschung ganz abgesehen. Ich denke, dass Viktor Frankl daran nicht ganz unschuldig war, da er zwar einerseits seine Therapie bewusst als Ergänzung anderer Therapien verstand, andererseits aber, meines Wissens nach, das Bekenntnis zu anderen, die psychische Ebene betreffenden Therapieformen scheute und eher in der Kritik stecken blieb. So kam es zu der unbefriedigenden Situation einer neben dem Psychotherapiebetrieb einherlaufenden Logotherapie und der traurigen Tatsache, dass Logotherapie heute immer noch ein Geheimtipp unter Psychotherapeuten anderer Provenienz geblieben ist.

IV. Gesellschaftliche Bedingungen der Ermöglichung von Selbsttranszendenz

Nach der Feststellung der Notwendigkeit logotherapeutischer Ergänzung heutiger Standardpsychotherapien, möchte ich noch einmal den soziologischen Faden aufgreifen. Wir hatten festgestellt, dass dem von Viktor Frankl beklagten Verlust an Selbsttranszendenz eine historisch nachvollziehbare Entwicklung der Gesellschaft, ihrer Kultur, ihrer Wirtschaftsstruktur und schließlich des sozialen Charakters ihrer Menschen zugrundeliegt. Wir hatten zudem festgestellt, dass dieser soziale Charakter von sich aus eine Tendenz zur Beschäftigung mit dem eigenen Seelenleben mitbringt und diese auch braucht, um sich in der zugleich komplexen und amorphen beruflichen und sozialen Situation zurechtzufinden.

Was folgt hieraus? Ich denke zweierlei: Einmal, dass wir verstärkt den gesellschaftlichen Hintergrund unserer Patienten und, sofern wir an Selbsterfahrung interessiert sind, unserer selbst in den Blick nehmen und dies auch offen mit den Patienten besprechen sollten. Ansonsten kann es z.B. zu der grotesken Situation kommen, dass wir den in den Leistungsbeurteilungsbögen deutscher Großkonzerne angeführten Kriterien für den perfekt angepassten Menschen nun unsererseits perfekte Vorstellungen von seelischer Gesundheit hinzufügen. Der Patient ist dann gänzlich überfordert und wir Psychotherapeuten auch. Besser ist es die Widersprüchlichkeiten zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen an die einzelne Person und dem Ziel seelischer Gesundheit aufzuzeigen. Aber nicht nur, dass dies Patienten und Therapeuten entlastet.

Die Sache hat noch einen anderen Aspekt: Erst durch eine Reflexion auf die gesellschaftlichen Bedingungen unseres Zusammenlebens können Psychotherapeuten, die in unserer Gesellschaft so merkwürdig still ihre Arbeit tun, wieder gesellschaftskritisch wirksam werden! Oder sollten wir uns mit der Rolle einer säkularisierten Priesterschar zur Vermittlung zwischen einer Gesellschaft ohne öffentlich verbindliche Lebensformen und dem nach ihnen suchenden Individuen stillschweigend abfinden? Ohne von einem psychologischen in einen soziologischen Determinismus fallen zu wollen, muss man feststellen, dass wir hier vor einem ernsten Problem stehen. Zur Gesundung des Menschen brauchen wir nicht nur den Blick in die Seele, sondern auch in die Gesellschaft, nicht nur Psychotherapie, sondern auch Gesellschaftspolitik. Diese Aktivität kann durch die Beschäftigung mit Logotherapie genauso wenig ersetzt werden wie die Psychotherapie. Wohl aber kann uns die Lehre Viktor Frankls dafür sensibilisieren, dass es für die wesentliche Möglichkeit des Menschen, sich selbst zu überschreiten und sich einer Sache hinzugeben, auch Lebensformen geben muss, die dieser Möglichkeit in jedem Lebensalter entgegenkommen!

V. Psychotherapieszene und Spiritualität

Zum Schluss möchte ich, wie anfangs angekündigt, noch auf die seit längerem schon zu beobachtende Verquickung von Psychotherapieszene und Spiritualität zu sprechen kommen. Ich beziehe mich dabei auf das Einladungsschreiben zu dieser Tagung, in dem eine Unruhe darüber geäußert wurde, “dass viele Christen in schwierigen Lebenssituationen eine Hilfe von ihrer Kirche nicht (mehr) erwarten” würden. Das Massenbedürfnis nach Auseinandersetzung mit dem eigenen Seelenleben spiegelt nicht nur die Sehnsucht nach Autonomie und Harmonie in unserem komplexer gewordenen Leben wider. Es geht hierbei, wie bereits erwähnt, auch um die Vorstellung, dass die Authentizität des eigenen Seelenlebens Richtschnur und Sinn im Leben zu geben vermag. Viele Menschen wollen in sich hineinspüren, um zu erkennen, wen sie nun wirklich lieben und welchen Beruf sie wählen wollen. Irgendwo in den Tiefen der Seele vermuten sie einen Schatz, der ihrem Leben Konsistenz verleiht. Diese zunächst einmal als sehr problematisch einzuschätzende Lebensauffassung hat natürlich auch eine religiöse Seite: Die Seele soll auch das Tor zu einem umfassenden Sinnverständnis abgeben. Angesichts dessen scheint es mir selbstverständlich, dass dieses Bedürfnis nicht durch die im Gesundheitswesen etablierten, an einzelwissenschaftlichen Paradigmen orientierten Psychotherapien abgedeckt werden kann. Es ist daher keineswegs erstaunlich, dass sich eine breite, heterogene, mehr oder weniger psychotherapeutisch orientierte Szene neben dem offiziellen Gesundheitsbetrieb entwickelt hat, die an diese Bedürfnisse anknüpft. Diese Szene reicht von bestimmten Ausprägungen der systemischen Therapie, ich denke an Bert Hellinger, bei dem es zu säkularen Versöhnungs- und Klärungsritualen innerhalb von Familien kommt, über verschiedene esoterische Richtungen bis hin zum Buddhismus und Hinduismus, dessen Etablierung bei uns ohne ein entgegenkommendes Bedürfnis, das ich als weitgehend psychologischer Natur bezeichnen würde, undenkbar gewesen wäre.

Alle großen Menschheitsreligionen zeigen sich als höchst kompetente Kenner der menschlichen Seele und haben entsprechende Schulen der geistlichen Führung entwickelt. Was sind die Vorteile dieser spirituellen Traditionen gegenüber den etablierten Psychotherapien? Ich denke, ihr Vorteil liegt darin, dass sie nicht induktiv, sonder deduktiv vorgehen. Wir sahen, dass die Psychotherapieschulen meist an einem defizitären Verhalten ansetzen, im ersten Reflexionsschritt nach innen führen, um dann die Aufmerksamkeit auf das Selbst überschreitende Bezüge zu lenken. Sie gehen also eher rekonstruierend vor. Ein Sinn “draußen” wird weitgehend vorausgesetzt. Auch die Logotherapie hat eine rekonstruierende Seite, indem Sinn gefunden, nicht gesetzt wird. In den Meditationsübungen der spirituellen Traditionen hingegen wird die Aufmerksamkeit von vornherein auf etwas Gegebenes, Höheres, auf Gott gelenkt. Von diesem das Selbst überschreitenden Fokus aus werden die entgegenstrebenden Seelenregungen wie z.B. Angst, Neid, Hass zwar wahrgenommen und durchlebt, aber nach und nach durch die bereits begonnene Umorientierung gereinigt. Der im Blick in die eigene Psyche vergeblich gesuchte Schatz kann sich öffnen, wo die Positivität des Woraufhin der Auseinandersetzung mit dem eigenen Seelenleben von vornherein gegeben ist. Ich erinnere hier an den Kampf der Wüstenväter mit den Dämonen, wie sie Johannes Cassian im fünften Jahrhundert geschildert und der Benediktinerpater Anselm Grün für uns heute verständlich gemacht hat. In Parallele hierzu spricht Buddha im Zusammenhang mit der Überwindung der menschlichen Leidenschaften von sogenannten Kampfestugenden. Den Vorteil dieser Positivität eines in der Meditation gegebenen transzendenten Fokus nutzen bereits einige maßgebliche Therapeuten der etablierten Psychotherapieszene. Ich denke z.B. an die amerikanische Psychologieprofessorin Marsha Linehan, die ein eigenes jetzt zunehmend in Deutschland rezipiertes Therapiekonzept für Borderline Persönlichkeitsstörung entworfen hat. Sie hat sich intensiv mit dem Buddhismus auseinandergesetzt.

Viktor Frankl würde sich angesichts dieser Entwicklung zunächst einmal im Grabe herumdrehen. Religiöse Bezüge gründen seiner Auffassung nach in existentiellen Glaubensentscheidungen und dürfen nicht in Psychotherapien hineingeschummelt werden. Religiöse Praxis kann nach ihm per effectum zu seelischer Gesundheit beitragen. Sie darf hierfür aber nie wie die Psychotherapien per intentionem eingesetzt werden. Ich denke, dass diese sicher bleibend gültige Aussage Frankls heute neu differenziert werden müsste. Ich möchte dies aber nicht tun, denn es geht mir in diesem Zusammenhang darum, bei Ihnen Verständnis zu wecken für die spirituellen Tendenzen in unserer Gesellschaft und ihre Verquickung mit der Psychotherapieszene.

Nun zum Christentum, zur katholischen Kirche: Auch wir verfügen über eine in allen Jahrhunderten lebendige Tradition der Meditation, der Kenntnis des seelischen Umwandlungsprozesses und einer diesen begleitenden “Seelenführung”. Worauf es aber meinem Dafürhalten nach ankommt, ist, dass wir Christen uns auf die gewandelte Bewusstseinslage in unserer Gesellschaft einstellen. Als Teil der Gesellschaft sind auch wir den Wandlungen des sozialen Charakters, wie sie Riesman geschildert hat, unterworfen. Es gibt also bei uns genauso den Übergang vom innen- zum außengeleiteten Typ. Ich möchte ein Beispiel nennen, wie sich dies in der Praxis auswirkt. Der innengeleitete Katholik hat ein in der strengen kirchlichen Praxis wurzelndes Programm in sich, nach dem er lebt. Wenn er z.B. eine Rache gegen einen Verwandten, über den er sich ärgert und dem er verzeihen möchte, beichtet, so hat er gelernt und weiß daher, dass der Willensakt der Verzeihung der wichtigste Schritt ist und in der Beichte volle Anerkennung findet. Nun stellt sich aber nach erfolgter Beichte heraus, dass er immer noch negative Gefühle gegenüber dem Betreffenden hat. Was tun? Er wird bei fehlender kompetenter spiritueller Begleitung die Tendenz haben, ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, oder die Tatsache dieser Gefühle “süß-säuerlich” verleugnen, da er ja verziehen hat. Der außengeleitete Mensch, der sich, wie wir gesehen haben, für sein Innenleben interessiert, beharrt auf innerer Authentizität. Der Gedanke, dass sein Willensakt verzeihen zu wollen als solcher zählt, ist ihm fremd. Entweder ist ihm die Aufforderung Jesu, aus ganzem Herzen zu verzeihen, eine verlogene Illusion oder er will genau wissen, wie das gehen soll. Er denkt mehr dimensional als kategorial. Wir sehen also, der eine muss lernen, dass es sich bei der Verzeihung aus ganzem Herzen um einen Prozess handelt, der andere, dass der Willensakt als Anfang dieses Prozesses Gültigkeit hat und dass er nicht auf ein volles Authentizitätsgefühl warten muss, um den Akt des Verzeihens zu vollziehen. Beide aber müssen lernen, diesen Weg des Verzeihens aus ganzem Herzen auch wirklich zu gehen. Diesen Weg gilt es zu vermitteln.

Aus meiner Erfahrung als Psychiater und Psychotherapeut kann ich Ihnen versichern, dass Themen wie Verzeihen oder auch Leidensbereitschaft und innerer Friede in den etablierten Psychotherapien, wenn sie denn überhaupt angesprochen werden, viel zu kurz kommen, obwohl man indirekt um diese Themen kreist. Spricht man diese hingegen an, kann man häufig das Gefühl bekommen, ein entscheidendes Anliegen getroffen zu haben. An Bedarf nach Seelsorge über die gängigen Psychotherapien hinaus fehlt es also nicht. Uns Christen braucht der neue, an der Psyche interessierte Menschentyp sei es bei uns selbst oder bei den anderen nicht zu schrecken. Dieses Interesse ist eine Zeiterscheinung, die fruchtbar gemacht sein will. Dabei geht es von christlicher Seite aus betrachtet um etwas ganz Realistisches, nämlich um Selbsterkenntnis, die Theresa von Avila als Definition der Demut bezeichnet hat. An uns Christen liegt es, mit Blick auf unsere Tradition und auf die Erkenntnisse der heutigen Psychotherapie die psychologische Dimension unseres Glaubensweges zu erkunden, um dann unsere Erfahrungen weitergeben zu können. Ich denke, dann brauchen wir bezüglich der Zukunft nicht unruhig zu sein.

Es handelt sich bei diesem Beitrag um einen Vortrag, den Dr. Christian Spaemann am 30. Januar 1999 in Maria Laach vor der Katholischen Ärztearbeit Deutschland e.V. auf einer Tagung über Viktor Frankl gehalten hat.
Dr. Christian Spaemann ist Psychiater und Psychotherapeut und leitet die Psychiatrische Abteilung des Krankenhauses St. Joseph in Braunau am Inn.


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