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Gott das Ideal der Wahrheit

Von Arnold Rademacher

Was ist Wahrheit? Das ist die alte und ewig neue Pilatusfrage. Sie kann gestellt werden aus wissenschaftlichem Interesse: Was ist das Wesen der Dinge? So meint sie der Forscher, der hinter den Erscheinungen der Wirklichkeit das ewige Gesetz sucht. Sie kann gestellt werden aus sittlichem Interesse: Wo liegen die wahren Wurzeln des edlen Menschtums? So stellt sie der Ethiker. Wo liegen die letzten und höchsten Maßstäbe des Schönen? So fragt der Ästhetiker. Sie kann endlich - und das ist ihre dringlichste Form - aus religiösem Gesichtswinkel erhoben werden: Wie deute ich mir die Gesamtwirklichkeit durch eine letzte Auskunft auf alle Fragen nach dem Woher und Wohin der Dinge und meines Lebens? In dieser Fassung wird sie auch oft gestellt ohne tieferes Interesse und ohne die Erwartung einer Antwort, als Ausdruck übersättigter pessimistischer Resignation: so mag der abgestumpfte Römer sie gemeint haben, als er dem Gesandten der göttlichen Wahrheit gegenüberstand.

1. Was ist Wahrheit? Es ist hier nicht der Platz zu erkenntnistheoretischen Erörterungen über den Begriff der Wahrheit. Der Religiöse weiß auch ohne Definition, um was es sich handelt, wenn die Frage religiös gemeint ist, mit oder ohne die Empfindung für die Tragik der Tatsache, dass die Philosophen sich über den Begriff der Wahrheit ebensowenig einig sind wie über denjenigen ihrer eigenen Wissenschaft. Es genügt hier die Feststellung, daß in jeder unverbildeten und unverdorbenen Menschenseele ein Verlangen nach der Wahrheit und eine Freude am Finden der Wahrheit lebt.

"Alle Menschen streben von Natur nach Wissen” (Aristoteles, Metaphysik, I 1, 980a 22). Auf primitiver Stufe äußert es sich in der Neugierde, auf einer höheren in der Wißbegier und in der höchstentwickelten Form in dem philosophischen Eros, der erst in der Erkenntnis der letzten Erreichbarkeit Gründe seine Befriedigung findet. Der Widerstreit zwischen der Erkenntnis der Erscheinungen und der Unkenntnis ihrer Gründe bildet den Ausgangspunkt aller Philosophie. Platon spricht mit viel Wärme von diesem philosophischen Eros, welcher besteht in einer Art geistiger Zeugungskraft, in einem angeborenen Verlangen nach dem Ideal des Guten und Schönen, welches selbst wieder mit dem Göttlichen identisch ist. Die sittliche Forderung der Wahrhaftigkeit ist eine Äußerung des Wahrheitstriebes. "An dem Stolz verletzt uns", wie Jean Paul sagt, "nichts so sehr als sein Mangel an Grund", d. i. seine Unwahrhaftigkeit. Selbst das Geheimnis empfängt von dem Verlangen nach Wahrheit den ihm eigenen Reiz, sowohl im Alltagsleben und auf dem Gebiete der philosophischen Erkenntnis als im Reiche des Glaubens. Es ist nicht so sehr das Dunkel, wie Scheeben geistvoll bemerkt, welches uns im Geheimnis anzieht, - denn “unsere Seele, aus dem Lichte und zum Lichte geboren, flieht die Finsternis und seufzt nach dem Lichte” (Matthias Joseph Scheeben, Die Mysterien des Christentums) als vielmehr die Ahnung, daß das Dunkel der Morgenröte einer himmlischen Welt des Lichtes voraufgeht, die unseren Geist in ihrem Bann hält. “Die Geheimnisse müssen an sich lichte, herrliche Wahrheiten sein; die Dunkelheit darf bloß auf unserer Seite liegen, insofern unser Auge nicht imstande ist, aus sich zu ihnen vorzudringen und sie zu erschöpfen.” Der Mensch schämt sich der Unwissenheit oft mehr als der Sünde, weil das Ideal des Wissens oder der Wahrheit in seiner Seele so lebendig ist und er mit Schmerz den Abstand seines Wissens vom Ideal empfindet - eine Erscheinung, die wohl als ein Beweis des Primates des Verstandes über den Willen gedeutet werden muß.

Daß es eine Wahrheit gibt, läßt sich nicht beweisen; es könnte ja nur wieder geschehen durch Vermittlung von anerkannten Wahrheiten. Man kann die Tiefe des Meeres nicht messen, wenn das Senkblei nicht einmal auf dem Grund aufstößt. Unser Geist will auch nichts wissen von einer nur subjektiven und wandelbaren Wahrheit, ebensowenig wie von der hochmütigen Meinung, daß die Wahrheit ein Selbstgeschöpf unseres Denkens sei wie das Netz einer Spinne. Augustin sagt: “Ich würde eher zweifeln daran, daß ich bin, als daran, daß es eine Wahrheit gibt” (Bekenntnisse, VII, 10, vgl. III, 6).

Es muß als ein Zeichen von Ungesundheit und Verkehrung der seelischen Naturanlage angesehen werden, wenn einer Zeit oder einer Gesellschaftsklasse oder einer philosophischen Richtung das Wahrheitsgefühl, der sichere Instinkt für Wahrheit abhanden gekommen ist. Der bekannte Lessingsche Ausspruch, als mache der Besitz der Wahrheit den Menschen träge und stolz, so daß er, “wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, immer und ewig zu irren, verschlossen hielte” und spräche: Wähle!, in Demut in seine Linke fallen und sagen würde: “Vater gib! die Wahrheit ist ja nur für dich allein,” ist, wenn er mehr als der Ausdruck der Forscherfreude sein soll, die Formulierung jener skeptischen Geistesrichtung, die das Vertrauen in die Kraft und Sicherheit des Wahrheitstriebes verloren hat. Ebenso ist die agnostizistische Stimmung, wie sie einen großen Teil unserer heutigen Denker beherrscht, soweit sie nicht von der Demut gegenüber der Wahrheit eingegeben ist, ein Krankheitssymptom, welches auf eine Übersättigung mit Erkenntnissen niederer Ordnung hindeutet, denen das einigende Band der Wahrheit, d. h. einer einheitlichen Weltanschauung fehlt. Über das Denken des Verstandesmenschen legt sich leicht eine solche Resignationsstimmung. Wir haben auf dem religiösen Gebiete die Unbefangenheit des Bejahens eingebüßt. Die Ursachen dieser Erscheinung sind vielfach. Eine von ihnen liegt sicherlich in der Rationalisierung der Glaubensobjekte, durch welche Widersprüche erzeugt werden, die dann bei Verwechslung von Glauben und Wissen in das Objekt selbst hineingetragen werden und den Glauben erschüttern. Darum finden wir oft so mühsam, was dem Naturkind instinktiv aufgeht. Die den Philosophen, besonders den deutschen, oft nachgesagte “Scheu vor der Klarheit”, die sich in geheimnisvollen Wendungen gefällt, um der Philosophie den Charakter einer esoterischen Wissenschaft oder ihrem Jünger den Anstrich eines Orakelpriesters zu geben, ist ein Mangel an Achtung vor der Wahrheit und weit entfernt von jener heiligen Ehrfurcht vor ihr, welche allzu scharfe Formulierungen deswegen vermeidet, weil sie fürchtet, die göttliche Wahrheit zu vermenschlichen. Auch das Spezialistentum, so wertvoll es für den Fortschritt der Wissenschaft im ganzen ist gegenüber der Barbarei des “Tausendkünstlertums”, wie Kant die oberflächliche Vielwisserei nennt, hat leicht den Nachteil im Gefolge, daß es dem dauernd auf ein bestimmtes Einzelgebiet eingestellten Geiste nach und nach die Anpassungsfähigkeit an ein ausgedehnteres Gesichtsfeld benimmt.

2. Mit welcher Seelenhaltung will die Wahrheit gesuchtsein? Es soll nicht die Rede sein von der Geisteshaltung gegenüber der Wahrheit. Hier steht sich der Idealist, der nur an unbedingten, allgemeingültigen überempirischen Wahrheiten interessiert ist und geschichtliche Tatsachen höchstenfalls nur als verdunkelte Ideen zu würdigen weiß, dem Realisten gegenüber, welcher nur die Feststellung von Tatsachen als Gegenstand der Erkenntnis gelten lassen möchte und in den Ideen nur luftige Abstraktionen sehen kann. Es handelt sich vielmehr um die sittliche Stellungnahme gegenüber Wahrheitsfragen (Vgl. hierzu Switalski W., Probleme der Erkenntnis, Veröffentlichungen des Katholischen Instituts für Philosophie Albertus-Magnus-Akademie zu Köln, Band 1, Heft 2. Aschendorffache Verlagsbuchhandlung Münster i. W., 1923, S. 92 ff.) Man kann unserer Zeit nicht nachsagen, daß sie kein Interesse an der religiösen Wahrheit habe. Im Gegenteil: das religiöse Problem, das noch vor Jahren verpönt war, steht im Mittelpunkt der Verhandlungen des Tages. Aber es ist nicht immer die rechte Geistesverfassung, mit der an dieses Problem herangetreten wird. Oftmals gilt hier das Wort des Apostels von den “allzeit Lernenden und nie zur Erkenntnis der Wahrheit Gelangenden (2 Tim 3,7). Die Haltung der Seele gegenüber der Wahrheitsfrage ist zunächst die der Bescheidenheit. Sie offenbart sich in der Pietät gegenüber den Errungenschaften und Überzeugungen der Vorzeit. Schon aus dieser allgemeinen Erwägung ergibt sich die Notwendigkeit der kirchlichen Gemeinschaft als der Hüterin des ererbten Wahrheitsbesitzes. Nicht jeder soll sich berufen glauben, ein neues Weltanschauungssystem aufzubauen oder zusammenzuzimmern; das ist das Werk starker synthetischer Geister und meist die Gesamterrungenschaft geschichtlicher Schulen. Dem Wahrheitssucher muß bewußt bleiben, daß alle Menschenweisheit Stückwerk ist und daß wir nur per “umbras et imagines”, wie der große Newman auf seinen Grabstein hat einmeißeln lassen, zu ihr vordringen. Wir sehen “durch einen Spiegel im Rätsel” und nicht “von Angesicht zu Angesicht”. Die göttliche Wahrheit will mit dem jungen König Salomon nicht nur gesucht, sondern auch erbetet sein. - Die Wahrheit verlangt eine lautere Gesinnung, eine gewisse innere Verwandtschaft mit der Wahrheit; denn “die Weisheit geht nicht ein in ein übelwollendes Herz und nimmt nicht Wohnung in einem der Sünde verfallenen Leibe” (Weish 1,4). Stoffliche Gesinnung stumpft ab gegen die Wahrheit. Das ist innerlich begründet: Der Stoff neigt zum Stoff nieder auf Grund seiner natürlichen Schwerkraft, aber die Wahrheit ist etwas Überstoffliches. Der Stoffmensch hat kein Organ für die Wahrheit, oder er hat Grund, die Wahrheit, wenn er sie doch ahnt, zu fürchten; darum findet er sie nicht. Gott kann zur Seele, die ihm gläubig anhängt, sagen: “Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest.” In feierlicher Stunde frohlockt Jesus im Heiligen Geiste: “Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dieses vor Weisen und Klugen verborgen, den Kleinen aber geoffenbart hast” (Mt 11,25; Lk 10,21). Das Kind ist nie und der Mann aus dem Volke selten ungläubig, wenn ihm einmal das Auge für die Wahrheit geöffnet worden ist. Das “Kind an Bosheit” ist “vollkommen an Einsicht” (vgl 1 Kor 14,20). Die Lauterkeit der Gesinnung empfängt eine wirksame Stütze durch häufige innere und äußere Einsamkeit, welche in gewisser Weise ja auch selbst Lauterkeit der Seele, d. h. Freisein von fremder Belastung ist. Die schweigende Natur, die Isoliertheit vom Geräusch des Betriebes, das Verlassensein von Menschentrost und Menschenhilfe eröffnet der Seele oft erst die Poren ihres tiefsten Wesens. - Der Majestät der Wahrheit muß die Seele mit Hochachtung begegnen. Es ist eine ungesunde Erscheinung, wenn die Wahrheitsfrage nicht mehr gestellt wird, wie bei der reinen Gefühlsreligion. Es ist nur eine scheinbare Ehrfurcht gegen die Wahrheit, nichts zu behaupten und nichts zu verneinen, um der Wahrheit nicht zu nahe zu treten, in Wirklichkeit aber eine Geringschätzung gegen ihre anbetungswürdige Majestät. Das Ausruhen in der Wahrheit macht nicht stolz und selbstgenügsam. Es gibt keine demütigeren Menschen als die wahren Wahrheitssucher, die sich ihres Besitzes still freuen, aber doch von einer steten Unruhe getrieben sind, immer tiefer in den Schacht der göttlichen Wahrheit hinabzusteigen, die wissen, daß alles, was wir von der Wahrheit, der göttlichen am meisten aussagen können, nur ein kindliches Lallen und einfältiges Stammeln ist.

In dieser ehrfürchtigen Seelenhaltung gegenüber der Wahrheit liegt übrigens auch eine heilsame Warnung vor einseitigem Intellektualismus, der vermeint, das Göttliche in das Gefäß menschlicher Vernunftbegriffe schütten zu können, der das Göttliche herabzieht, es vermenschlicht und vergröbert und so lange versinnlicht, bis er es sich selbst gleichartig gemacht hat, der dann das Netz seiner Vernunftkategorien darüber wirft und nun das Geheimnis zu verstehen glaubt, während er in Wahrheit nur seine eigenen Gedankengespinste sieht und bewundert, hinter denen aber die Wahrheit in keuscher Unnahbarkeit sich verbirgt. Gewiß soll es dem Intellekt nicht verwehrt sein, auch das Geheimnis in den Kreis seiner Kategorien zu ziehen. Er darf es und soll es, schon weil er nicht anders kann. Aber er soll es tun mit dem stets wachen Bewußtsein, daß das Ergebnis dieser seiner Bemühungen nur Analogien und Schattenbilder sind. In der Theologie liegt für den unreligiösen Menschen eine Gefahr, die die Volksseele mit sicherem Instinkt ahnt, die Gefahr, vermessen mit unheiligem Auge das Göttliche schauen zu wollen und von dem unehrfürchtig zu reden, was nur demütig angebetet werden darf. Es ist die gleiche Gefahr, wie sie demjenigen droht, der mit unheiligem Herzen die Schöpfungen der Kunst genießen will: was dem reinen Menschen eine Gottesoffenbarung werden kann, kann jenen in die Unfreiheit des Stofflichen hinabziehen. "Das Unendliche wird nicht umfaßt vom Endlichen," sagt die Schule. Andererseits bleibt doch auch wieder der Satz des Aristoteles wahr, daß, "wer das Wissen um seines eigenen Wertes willen erwählt, die Wissenschaft erwählen wird, welche am meisten Wissenschaft ist; solcher Art aber ist die Wissenschaft von dem am meisten Wißbaren, und das sind die Prinzipien und die Ursachen” (Metaph. A 2, 982b 2), und sein anderes Wort, daß die Wissenschaft vom Göttlichen auch die köstlichste ist, weil eben das Göttliche selbst das Köstlichste ist (983a4).

Die rechte Einstellung zur Wahrheit ist auch die Mutter der wahren Toleranz, die sich glücklich schätzt, die Wahrheit oder den Weg zu ihr zu kennen, und täglich der Gottheit dankt für das hohe Geschenk, aber auch demütig genug ist, um andere nicht deshalb zu verdammen, weil sie weniger glücklich sind auf der Suche nach dem Schatz im Acker und der kostbaren Perle. Das schärfste Urteil aber muß solche treffen, die die Lebensfrage nach der Wahrheit nicht für wichtig genug halten, sich um sie zu bemühen. Das ist der Tod der Seele, die Sünde gegen den Geist. Die Pflicht des Wahrheitssuchens kann ihnen nicht erspart werden; sie lastet auf ihnen so lange, bis sie sie finden, und wenn das ganze Leben und die ganze Ewigkeit daranginge. Wahrheitssuche ist Gottesdienst. Die alten Theologen sind der Meinung, Gott werde einem Menschen eher einen Engel senden, als daß er ihn die Wahrheit verfehlen ließe. Wir drücken diesen absoluten Heilswillen der Gottheit lieber so aus, daß wir sagen: Gott wird im Falle unverschuldeter Verfehlung der Wahrheit den guten Willen für die Tat nehmen und das Verlangen nach der Wahrheit als die Vollmacht zum Eintritt in sein Reich gelten lassen. Daher werden wir alles Mitgefühl haben mit den vergeblich Suchenden, mit denen, die an der Wahrheit oder dem falsch verstandenen Glauben zerbrechen; wir können es aber nicht ebenso haben mit den Blasierten, die, im Stoff vergraben, mit der Wahrheit ein frevles Spiel treiben, die sich die Augen für die Wahrheit geblendet haben oder die Wahrheit, besonders die religiöse, als Mittel zur Erraffung von Gütern der stofflichen Ordnung erniedrigen; denn das ist die Sünde wider den Geist, die weder in diesem noch im anderen Leben vergeben werden kann.

3. Die besondere Natur des Wahrheitsstrebens geht dahin, daß es sich nicht so sehr auf Einzelerkenntnisse als vielmehr auf eine einheitliche Verknüpfung derselben zur Erkenntnis überhaupt wirft, auf die letzten Fragen des Lebens, die wichtiger sind als alle Probleme der Naturwissenschaft, der Geschichte, des sozialen und politischen Lebens, der Technik und Lebenskunst. Es richtet sich auf ein einheitliches Gesamtbild der Wirklichkeit, auf eine Weltanschauung. Mag der Dichter es beklagen, daß an Stelle der bunten Galerie antiker Göttergestalten "ein Einziger herrscht in des Äthers Räumen": der Philosoph und mehr noch der religiöse Mensch kann auf Einheit nicht verzichten, und hier ist jeder Mensch ein Philosoph und ein Religiöser. So steigen wir höher und höher, von Wahrheit zu Wahrheit, mit Dante gleichsam von Stern zu Stern hinauf bis zur Himmelsrose, wo die Auserwählten bei Gott wohnen: die höchste Wahrheit ist die Quelle der Wahrheiten, das eine Wahre die Quelle alles Wahren. Darum kann ein starker Wahrheitstrieb bestehen unabhängig von der Fülle der Erfahrungen und des Einzelwissens und selbst unabhängig von der allgemeinen geistigen Begabung; ja man kann beobachten, daß die Einfalt trotz Unkenntnis der Zeitprobleme oft ein kräftigeres Wahrheitsbedürfnis und einen sichereren Wahrheitstrieb besitzt als Talent und Gelehrsamkeit. Es ist eben der Einheitsgedanke, auf den dieses Bedürfnis abzielt. Alles aus einem Prinzip ableiten zu können, ist nach Kant (Kritik der praktischen Vernunft) das unvermeidliche Bedürfnis der menschlichen Vernunft, “die nur in einer vollständig systematischen Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheit findet.” Jede noch so große oder noch so geringe Summe empirischen Wissens kann den Unterbau abgeben für die Aufrichtung einer allgemeinen Weltanschauung.

Die Wahrheit selbst aber ist ohne Vergleich größer als jede Summe von Wahrheiten und die Wissenschaft größer als jede Summe von Wissen. Wie hinter dem realen und begrenzten Raum ein unermeßliches Reich des möglichen Raumes und möglicher Welten, der ideale Raum, liegt, so hinter dem uns zugänglichen Erkenntnisgebiet ein unbegrenztes Reich möglichen Erkennens. Aber auch intensiv bleibt unser Erkennen beschränkt, weil wir weder in das Wesen der Dinge eindringen noch diese in uns selbst aufnehmen können und weil wir die Dinge immer nur von einer Seite zu betrachten vermögen. Je mehr wir in die Tiefe dringen, desto dunkler wird es um uns, und desto mehr werden wir uns der Grenzen unseres Erkennens bewußt. “Unser ganzer Erkenntnisprozeß ist, soweit er sich innerhalb der Erfahrungsform bewegt, eine ins Unendliche fortgehende Horizonterweiterung, die aber von ihrem Ziel, der Enthüllung des Wesens der Dinge, immer gleich weit entfernt bleibt” (Karl Heim, Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung zur Lebensfrage der Religion. 2. Aufl. Leipzig 1920, S. 135). Es ist nicht einmal nötig, hinzuweisen auf die Abhängigkeit der Erkenntnis von den Sinnen, auf die Kürze der verfügbaren Zeit, auf das Gesetz der "Enge des Bewußtseins" und auf die mannigfachen Fehlerquellen, denen unsere Erkenntnis ausgesetzt ist. Mit einem Worte: die Wahrheit ist eine Idee und das Wissen ein Ideal , d. h. Wahrheit und Wissen sind Größen, deren die Seele nur näherungsweise und unvollkommen habhaft werden kann. Auch ein noch so großes Maß von Wahrheitserkenntnis füllt die Seele nicht aus; je umfangreicher und tiefer die Erkenntnis, desto zahlreicher und schwieriger sind die neuen Probleme, die aus ihr geboren werden, und desto begieriger wird die Seele nach Ausfüllung ihrer sich stets umfassender ausweitenden Vermögen. Das Orakel zu Delphi pries Sokrates als den Weisesten, weil er, durchdrungen von der Idealität des Wissens, eingestand, zu wissen, daß er nichts wisse, und St. Paulus nennt unser Erkennen Stückwerk und Rätsel.

So haben wir denn auf der einen Seite eine unbegrenzte Aufnahmefähigkeit und einen geistigen Hunger nach Wahrheitserkenntnis und einen Einheitstrieb, der nur in der geschlossenen Verknüpfung der Einzelerkenntnisse und in letzten Auskünften über das Woher und Was der Dinge sich befriedigt fühlt, auf der andern Seite ein unbegrenztes Reich von Wahrheiten als Gegenstand möglicher Erkenntnis. Wer wird den Wahrheitsdurst stillen und was wird dem Einheitstrieb Befriedigung geben? Das kann, wenn es überhaupt je geschehen soll, - und es muß geschehen, wenn das Wahrheitssuchen einen Sinn hat - nur die Wahrheit selbst, die sich dann in einem einzigen und stetigen Anblick dem Geiste zu schauen gibt, die selbst ewig und unwandelbar ist und von der die einzelnen Wahrheiten nur Ausstrahlungen sind. Wir können nicht wohl anders, als dieser Wahrheit mit Platon und Augustinus den Charakter einer wesenhaften Wirklichkeit geben, welche Trägerin der abstrakten Wahrheit und irgendwie Schöpferin der konkreten Wirklichkeiten ist. [1] Gott hat die Wahrheit und ist die Wahrheit. Die Schöpfung ist ihr Spiegel, das Prisma, in welchem sich die eine und einfache Wahrheit in vielfachen und vielfarbigen Strahlen bricht. Der göttliche Logos allein besitzt die ganze Wahrheit; er ist "der Abglanz der Herrlichkeit Gottes", der von Ewigkeit her bei Gott war und Gott selbst ist, "aus dem alles gemacht ist und ohne den nichts gemacht ist von dem, was geworden ist". Wir aber sind ein Bild dieses Logos, und nun haben wir auch die Erklärung für unseren Hunger nach Wahrheit: jede Seele ist ein Hauch Gottes, wesensverwandt mit der Gottheit, und daher strebt sie stets in naturhaftem Verlangen nach ihrem Ursprung zurück; denn Gott hat uns für sich geschaffen.

4. Bei Menschen ohne höhere Interessen, Stoffnaturen, deren Ideale unterhalb der den Menschen als solchen auszeichnenden geistigen Vermögen liegen, kann der Wahrheitstrieb keine intensivere Kraft entfalten und pflegt dann auch sich abzustumpfen, ohne freilich jemals gänzlich abzusterben. Die Skepsis ist eine Krankheit der Vernunft; der bewußte Widerspruch aber gegen die erkannte Wahrheit ist die größte Sünde, unvergebbar, weil ein innerer Gegensatz zum Geist der Wahrheit. Auch das Gegenteil, der Wissensstolz, die Hybris der Alten, ist dem Wahrheitssinn nicht günstig. Dagegen kann der Wahrheitstrieb bei großangelegten Seelen sich steigern bis zu elementarer Leidenschaft. Ergreifend sind die Worte, die der heilige Augustinus in der Not seiner nach Wahrheit verlangenden Seele in seinen Bekenntnissen (III, 6) niedergeschrieben hat. Er hatte sie gesucht bei den anspruchsvollen manichäischen Philosophen, die mit lautem Geschrei ihre Wahrheit anpriesen, aber sie hatten sein Herz leer gelassen. “O Wahrheit, Wahrheit, wie viele feurige Wünsche stiegen damals aus dem Grunde meiner Seele zu dir auf, als jene immerfort und in vielfältiger Weise deinen Namen im Wort und in vielen und umfangreichen Büchern an meine Ohren ertönen ließen! Das waren die Gerichte, in denen ich, der ich nach dir hungerte, auf Sonne und Mond verwiesen wurde, welche allerdings schön sind, aber doch nur deine Werke und nicht du selbst und nicht einmal die schönsten deiner Geschöpfe. Denn früher sind deine geistigen Werke als jene Körper, so leuchtend und himmlisch sie sein mögen. Ich aber hungerte und dürstete auch nicht nach diesen ersten Werken, sondern nach dir selbst, o Wahrheit, in der kein Wechsel ist und kein Schatten von Wandel. Und man wies mich hin in jenen Gerichten auf schimmernde Phantome .. . Gleichwohl aß ich davon, weil ich meinte, du seiest es, nicht begierig zwar; denn mein Mund schmeckte dich nicht, wie du in Wahrheit bist - jene eingebildeten Wesen waren ja nicht du -, und ich nährte mich nicht an ihnen, sondern wurde nur noch leerer ... Du aber, meine Liebe, nach der ich schmachte, um stark zu sein, du bist zwar im Himmel, aber doch keiner von jenen Körpern, die wir am Himmel sehen, und keiner von denen, die wir nicht dort sehen ... Du bist auch keine Seele, die der Lebensgrund von Körpern ist, ... sondern du bist das Leben der Seelen, das Leben der Leben, das da lebet durch dich selbst, und du änderst dich nicht, du Leben meiner Seele”. Nur Gott, die unendliche und konkrete Wahrheit, ist ihm die restlose Erfüllung des Wahrheitsideals. Es ist übrigens kein Zufall, daß Augustinus der Liebling der Modernen ernsterer Richtung zu werden begonnen hat [2]. Je vielgestaltiger und aufreibender das Leben und je differenzierter die Wissenschaft geworden ist, desto stärker macht sich die Sehnsucht nach der zusammenfassenden Einheit geltend. Das Viele genügt nicht einmal dem wahrheitssuchenden Geist, geschweige denn der Seele, die in der Wahrheit ruhen will. In dem Anspruch auf Einheitlichkeit der Weltanschauung beruht auch die Anziehungskraft, welche der Monismus heute auf weniger kritische Denker ausübt.

Es liegt eine der tiefsten Ahnungen der heidnischen Weisheit darin, daß ihre größten Jünger, Platon und Aristoteles, die letzten Elemente des Seienden und des Wahren als das Göttliche und die höchste Form des philosophischen Schauens als Theologie bezeichnen. Die Gottheit ist eben die Wahrheit und die Quelle aller Wahrheiten, und zwar als ein von der wandelbaren Welt unterschiedenes personartiges Wesen, Hier stehen beide, der Idealist und der Realist, auf dem Boden der Menschennatur, die als ihr höchstes Wahrheitsideal nicht einen inhaltlosen Schemen, nicht ein leeres Abstraktum, sondern eine konkrete Wirklichkeit fordert, deren Anschauung allein dem Geiste seinen Ruhepunkt und dem Sehnen der Seele die Erfüllung zu geben vermag. Hat das Menschenleben einen Sinn, dann müssen wir zur Befriedigung des Wahrheitsbedürfnisses, auch ohne auf das Ursachengesetz angewiesen zu sein, die Existenz eines ewig Wahren fordern. Hier zeigt sich die alte und die christliche Philosophie menschenfreundlicher und naturhafter als die Kantische Denkweise, nach der die Vernunft zwar allein in der Annahme eines schlechthin notwendigen Wesens ihre Ruhe findet, aber dennoch die Existenz dieses Wesens nicht behaupten darf, nach der zwar der Begriff des höchsten Wesens "ein Ideal ohne Gleichen” [3] ist, aber dennoch eine "dreiste Anmaßung" darin liegen soll, seine notwendige Existenz zu behaupten, und nach der die Idee Gottes wohl ein "Gedanke" ist, in dem "nichts Unmögliches” [4] angetroffen wird, aber noch keine Erkenntnis, deren Gegenstand objektive Realität besäße. Kant läßt in Wirklichkeit den denkenden Geist und die suchende Seele keinen Ruhepunkt finden, wenn er ihnen zwar die Kraft und den Zwang zuschreibt, ein letztes Wirkliches zu denken, aber nicht auch das Recht, seine Existenz zu behaupten und sich an ihm zu erfreuen. Die am Glauben orientierte Philosophie der Schule hat in diesem Punkte die Zuständigkeit der reinen Vernunft besser gehütet als das auf seine Autonomie stolze Denken der Gegenwart, wenn sie dem Geiste nicht nur ein natürliches Verlangen nach dem Schauen der göttlichen Wesenheit zuschreibt, sondern auch, wie wenn es selbstverständlich wäre, hinzufügt, daß solche Sehnsucht nicht eitel sein könne [5].

Anmerkungen:

[1] Weniger glücklich scheint mir der Weg zu sein, den Hermann Bahr (Vernunft und Wissenschaft. Innsbruck, Verlag Tyrolia 1917) zu dem gleichen Ziele einschlägt. Er geht aus von der Idealität des Wissens und postuliert, wie aus dem Widerstreit des sittlichen Imperativs mit dem tatsächlichen Maße der sittlichen Kraft eine göttliche Gnadenhilfe, so aus der Unmöglichkeit der Befriedigung unserer Wahrheitsbedürfnisse aus eigenem Vermögen eine göttliche Gnadenerleuchtung zur Ergänzung den natürlichen Fähigkeiten. Man wird dagegen das Bedenken geltend machen: Warum legt die Gottheit in die Seele ein Verlangen, das diese nicht befriedigen kann? Trieb und Objekt müssen sich doch entsprechen. Ist der Trieb blind und unerfüllbar, dann besteht auch keine logische Notwendigkeit, ihm sein Objekt zu geben; ist er aber erfüllbar, dann bedarf es keiner ergänzenden Gnade. Eine Offenbarung als Ergänzung der rein natürlichen Ausstattung der menschlichen Vernunft, die wir uns doch um der Ehre ihres Urhebers willen als genügend vorstellen müssen, könnte nur als ein Widerspruch Gottes mit sich selbst gedeutet werden.

[2] Vgl. Jansen, Bernhard S. J. “Augustinus ein moderner Denker (Stimmen der Zeit, Bd. 98, 29-40) und “Das Zeitgemäße in Augustins Philosophie” (ebenda 189-203).

[3] Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe von Karl Kehrbach, Leipzig, Reclam, 481.

[4] Kritik der praktischen Vernunft. Ebda. 161.

[5] Vgl. Thomas, Summa c. Gent. III, 57 (vgl. auch III, 25 und 50 und Ligeard, La Théologie Scolastique et la Transcendance du Surnaturel, Paris, Gabr. Beauchesne & Cie 1908, 18 ff., 53 ff.

Aus: Arnold Rademacher, Die Gottsehnsucht der Seele, Reihe Der Katholische Gedanke, Band 1, München, Theatiner Verlag, 21924, S. 71-91.


Philosophie als Lebensform

Dass Philosophie in Wahrheit eine Lebensform ist, oder anders: dass sie eine Lebensform sein sollte, ist mir viele Jahre nach meiner Doktorandenzeit noch einmal deutlich geworden. Ich wurde Christ und begann mich verstärkt mit christlicher Philosophie und Theologie zu beschäftigen, was mich unweigerlich zu Thomas von Aquino (1225–1274) führte. Für den wahren Philosophen vom Schlage eines Thomas besteht die Wahrheit nicht aus Sätzen, die man aussprechen und danach wieder vergessen könnte. Vielmehr ist die Wahrheit das Element, in das der Philosoph mit seiner ganzen Existenz einzutauchen versucht. Sein Ziel ist, in der Wahrheit zu sein, in ihr zu leben. Die lebensspendende Wahrheit, die Thomas zu ergründen suchte, war freilich niemand anderes als Christus selbst.

Aus: Sebastian Ostritsch, Philosophieren heißt heilig werden, auf Corrigenda vom 18. Juli 2023.


Kein Aprilscherz

In dieser Folge meines Podcasts stelle ich Ratzingers Gotteshypothese vor und verteidige sie mit Max Horkheimer gegen innerkirchliche Kritiker.


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